1944 wurden wir in die Sexta (damals erste Klasse) des Domgymnasiums aufgenommen. Walter Haake war damals noch im Felde (erst protzt er auf der Orgel, jetzt orgelte auf der Protze), er war wohl bei der Artillerie. Musikunterricht gab Vogler, genannt Ade, dann Polit. Haake kam früh aus der Kriegsgefangenschaft, es kann wohl 1946 gewesen sein. Er war Organist am Naumburger Dom und wurde sehr bald zum Kirchenmusikdirektor ernannt. Vor seiner Ernennung genossen wir schon den von reicher Bildung geprägten Musikunterricht bei ihm.

Was jetzt folgt, ist nicht unbedingt chronologisch zu sehen. Die Erinnerung kennt keine scharfen zeitlichen Grenzen. Als er sich uns vorstellte, schrieb er seinen Namen latinisiert an die Tafel: "Doctor Gualterius Uncus". Schließlich konnten wir ja schon alle Latein. Er nahm uns mit auf die Orgel, die damals noch auf dem Westlettner stand, die Pfeifen seitlich davon. Bei der 3manualigen Orgel zeigte er uns die verschiedenen Register und wie man Manuale untereinander und mit Registern koppeln konnte, spielte auch auf dem Pedalwerk. Welche Prachtentfaltung durch die verschieden Stimmen der Register! Jürgen Sauer durfte am Sonntag Register ziehen. Die Analogie zum Manualwerk der Orgel zeigte Haake uns an einem 2-manualigen Cembalo. Auch hier konnte man ja koppeln und Register ziehen z.B. den Lautenzug. Dann ging es weiter zum Clavichord mit seinem feinen zarten Klang – die Kerzen knisterten, die Hörer hielten den Atem an. In Erinnerung ist mir noch, wie wir um das Cembalo herumstanden und das Lied von Matthias Claudius "Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land,.." in einer etwas schöneren Melodie als der gängigen (Lied EG 508) sangen. Es war wohl die Zeit des Erntedankfestes.

Als der Westchor des Domes mit den Stifterfiguren und der Westlettner von ihrer schützenden Ummauerung befreit waren (sie waren erst 1944 eingemauert worden), erklärte Haake uns den Westlettner und die Stifterfiguren. Daran erinnerte ich mich, als ich den Ausschnitt aus der Wiesbadener Zeitung las: "Alle meine Claviere" und weiter: "Ich ging die Wendeltreppe hinauf zur Orgel, es war meine Orgel, gespielt habe ich nicht mehr, nur die Tasten gestreichelt." Es war der Abschied vom Naumburger Dom und von Naumburg. Das war wohl einige Jahre später.

Doch auch in den Ostchor wurden wir geführt und durften auf den Pulten, von welchen die Mönche sangen, aus schweinsledernen Büchern, die Neumen bestaunen. Dabei verkrochen sich einige in eine Wendeltreppe im Turm, wurden aber später wieder gefunden. Bei anderer Gelegenheit zeigte uns Haake ein buntes Fenster, das aus vielen kleinen Bruchstücken zusammengesetzt war, wohl in der Taufkapelle.

Bei den Generalproben zu großen Chorwerken durften wir im Ostchor sitzen. Das waren die teuersten Plätze bei den Aufführungen. So wurde im Sommer 47 Bachs h-moll Messe gespielt und im Herbst 47 Brahms Deutsches Requiem einstudiert. Haake gab uns zuvor eine Einführung mit Klavierauszug. So erinnere ich mich doch noch an den Ausspruch: "An dieser Stelle, da zittern die Kirchenfenster." Es war wohl die Stelle: "Denn alles Volk ist wie Gras..." aus Jesaja.

Nicht unerwähnt bleiben dürfen die Aufführungen im Domhof zu Peter und Paul, kurz vor Ferienbeginn. Erich Eller (genannt Ellerhäschen) hatte mit uns ein Stück von Hans Sachs einstudiert, das z. T. im Himmel, als auch auf der Erden spielte. Der Himmel war das Dach des Kreuzganges, die Erde der Domhof. Dort saß auch das Orchester, das beim Einzug des Herrgotts eine Suite spielte, von Haake komponiert. Sie erinnerte dem Stile nach an Jean-Baptiste Lully. Auch wurde die Serenade "Im Walde zu singen" aufgeführt. Zum Schluß das Lied des Nachtwächters: "Hört ihr Herrn und laßt euch sagen...". Bongo, vormals Fahnenträger beim Jungvolk, kam aus einer Luke im Turm und sang den Solopart. Unten bei den Zuschauern saß auch Frau Dr. Bevelein, unsere Hausärztin. Sie hatte mich während einer Gelbsucht versorgt. Frau Dr. Bevelein strahlte die ganze Zeit Haake an. Naiv, wie ich war, glaubte ich, daß sie mich anlachte. (Ich hatte eine stumme Rolle auf dem Dache des Kreuzganges.)

Wenn ich später Hermann Hesses Glasperlenspiel las, dachte ich an den Musikunterricht, in dem Haake uns die Analogie eines barocken Parkes mit der Form einer Sonate erklärte. Auch glaube ich, daß er uns im Zuge des Cantus firmus die Spiegelung und den Krebs in einer Fuge beibrachte. Welche Fugen er als Vorbild nahm, weiß ich nicht mehr, es könnte Bachs Kunst der Fuge gewesen sein. Ist es doch eine ganz hohe Kunst, im Krebs eine Melodie gleichzeitig vorwärts und rückwärts laufen zu lassen. Ich glaube, Haake verdanke ich die Hinführung zu den alten Meistern, Schütz, Schein, Scheidt, zu den Bachen aber auch zu Telemann.

Nicht nur geistliche Werke wurden uns nahe gebracht, so z. B. auch Balladen von Karl Löwe vertont. Haake saß am Klavier und sang aus Edward: "Ich habe geschlagen mein Roß tot" bis "ich habe geschlagen meinen Vater tot, doch verflucht seid ihr, denn ihr rietet’s mir".

Nun wird es wieder geistlich: Johann Rudolph Ahles (EG 450) Melodie zu Knorr v. Rosenroths Lied Morgenglanz der Ewigkeit, Licht vom unerschöpftem Lichte, ... wurde uns von Haake nahegebracht. Zum Vortage des 1. Mai 1947 hatten wir Laternen gebastelt. Eine solche war mir, wie ich meinte, recht schön gelungen. Im dunklen Flure unserer Wohnung am Moritzplatz 1, wo uns unsere Großmutter Holtzendorff aufgenommen hatte, zündete ich die Laterne an und sang dazu dies überaus schöne Lied.

Es ist sicher vieles unbewußt geblieben, wozu uns Haake geführt hat. Manches habe ich sicher auch einfach vergessen. In dem Alter zwischen 10 und 14 Jahren sind Kinder sehr aufnahmefähig und auch prägsam. Ich glaube, daß uns Walter Haake ganz wesentlich geprägt hat. Für diese Prägung wollen wir ein sehr spätes Danke sagen.