älteste Tochter von sieben Geschwistern, arbeitete mit ihm zusammen und übernahm vor Ort die Buchführung kleinerer Unternehmen und Gaststätten.

Mein Vater hatte in Dtsch. Buckow im Kreis Stolp in Pommern Stellmacher gelernt und war als Geselle nach Köthen auf eine Wagenbauschule gegangen, um danach in Bayern und Halle im Waggonbau zu arbeiten, bevor er in Naumburg bei der Firma Carl Zimmermann in der Marienstraße als Stellmacher Anstellung fand. Hier legte er seine Stellmacher-Meisterprüfung ab. Durch den Besuch der christlichen Gemeinschaft (innerhalb des Gnadauer Verbandes) am Domplatz 7 lernte er meine Mutter kennen, die dort zum Bund für entschiedenes Christentum (EC) gehörte. Sie heirateten im Dezember 1929 und wurden von Pfarrer Lindner im Naumburger Dom getraut.

Ich wurde am 24. September 1930 in Naumburg geboren und im Dom von Pfarrer Moehring am 30. November 1930 getauft. Weil die Mitglieder der pietistisch orientierten Gnadauer Gemeinschaft Mitglieder der evangelischen Landeskirche blieben, wurden in ihr keine Sakramente gefeiert und keine Handlungen wie Konfirmationen, Trauungen und Beerdigungen vorgenommen.

Als 1930 die wirtschaftliche Notsituation auch in Naumburg einen Höhepunkt erreichte und die Firma Carl Zimmermann Gesellen entlassen musste, entschlossen sich meine Eltern, zur Heimat meines Vaters nach Pommern zu ziehen, um einem der Gesellen der Firma den Arbeitsplatz zu erhalten.

[Pommern - Berlin - Pommern]

Naumburg wurde erst unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg für unsere inzwischen um weitere fünf Kinder angewachsene Familie wieder zum Wohnort, zunächst allerdings zur Zufluchtsstätte und zwar aus dem einfachen Grund, weil meine Großmutter, Ida Kirchhof, nach dem Tod ihres Mannes im Naumburger Hospital eine kleine Wohnung bezogen hatte.

Unsere Familie war 1934 von Pommern nach Arnswalde (Neumark - später Pommern) gezogen, wo mein Vater eine Stellmacherei betrieb. 1939 wurde er in die Organisation Todt eingezogen und seine Gesellen zur Wehrmacht. Er verlor seinen Stellmacherbetrieb wurde aber schon bald wieder entlassen, weil er eine "kinderreiche" Familie hatte. Wir zogen 1940 nach Berlin, wo er bei einer Karosseriebaufirma als technischer Leiter Anstellung fand. Von hier wurden wir 6 Kinder 1943 wegen der Bombenangriffe auf die Stadt nach Pommern evakuiert.

[In sowjetischer Gefangenschaft]

Nach dem Vorrücken der sowjetischen Front und Besetzung Hinterpommerns im März 1945 wurde unser Vater von den Sowjets in den Osten deportiert. In der Gefangenschaft hatte er vom Jalta-Abkommen gehört und damit von der Vertreibung der Deutschen auch aus Pommern. Seitdem hatte er unaufhörlich zu Gott gebetet, dass es ihm vergönnt sein möge, noch vor unsrer Vertreibung bei uns einzutreffen. Nach einem halben Jahr Gefangenschaft sollte er wegen seines schlechten gesundheitlichen Zustands endlich entlassen werden. Viele der überlebenden Gefangenen wurden mit einem Güterzug in die sowjetische Besatzungszone gebracht. Sie bekamen einen Zettel von der Größe einer halben DIN A4 Seite mit ein paar russischen Sätzen und einem dreieckigen Stempel darunter als Entlassungspapier. Es wurde ihnen eingeschärft, sich nur in einer der Besatzungszonen aufzuhalten und auf keinen Fall in die von Polen übernommenen Gebiete Deutschlands zurückzukehren, denn dort würden sie unweigerlich neu gefangen genommen werden.

Vater machte sich sofort auf den Weg nach Naumburg, wo er Großmutter im Hospital aufsuchte, um über den Verbleib der Familie zu erfahren. Hier hatte niemand etwas von unserer Familie gehört. Das hieß, er musste uns in Pommern suchen. Längere Strecken marschierte er zu Fuß in Richtung Stolp. Einmal versteckte er sich im Bremshäuschen eines Güterzuges, um schneller vorwärts zu kommen, und einmal wurde er wieder gefangengenommen, entkam aber durch einen Trick. Schließlich gingen seine Gebete in Erfüllung und er kam ‘pünktlich’ einen Tag vor unserer Ausweisung in Stolp an, um die Führung der großen Familie zu übernehmen. Er war bis zur Unkenntlichkeit aufgeschwemmt und kahlgeschoren.

[Vertreibung aus Pommern]

Schon bevor Vater zurückkam, hatte Mutter einen Ausweisungsbefehl der polnischen Verwaltung bekommen. Am 22. September 1945, es war ein Samstag, wurde ein kleiner Handwagen mit ein paar Bett- und Kindersachen beladen. Wir machten uns auf den Weg zum Bahnhof. Hier war der Bahnsteig schon gepackt voll mit anderen Ausgewiesenen. Jeder schleppte ein paar Habseligkeiten mit. Schließlich kam ein Güterzug vorgefahren, in den wir verladen wurden. Etwa fünfzig Personen kamen in jeden Waggon. Es gab natürlich keine Sitzgelegenheiten außer den Sachen, die jeder mitgebracht hatte. Die meisten mussten trotzdem stehen. Unter uns waren Säuglinge und Greise. Die Waggontüren wurden vorgeschoben. Es sollte eine Reise ins Ungewisse werden.

Mit meiner heutigen Kenntnis der Judentransporte kann ich nicht umhin, an sie zu denken. Diese waren oft viele tagelang unterwegs, aber nicht in eine größere Freiheit wie wir, sondern in die KZs und darüber hinaus – in die Gaskammern. Als Familie haben wir nie ein Ressentiment gegen die Polen oder Sowjets gehegt, weil unsere Eltern uns genügend über die Untaten der Deutschen in ganz Europa informiert hatten.

Der Zug fuhr langsam in die Nacht. Es wurde stockdunkel. Die Fahrt wurde langsamer, und schließlich kam der Zug zum Stehen – anscheinend auf freier Strecke. Es dauerte nicht lange, bis die Türen aufgeschoben wurden und dunkle Gestalten in den Waggon kamen. Sie griffen alles, was sie fassen konnten an Mänteln, die sie den Leuten auszogen, und an Bündeln, auf denen sie saßen. Frauen wurden an Hälsen und Armen nach Schmuck abgetastet. Vater, mein Bruder und ich taten, was wir konnten, um unsere Bündel in der Dunkelheit zu verschieben und mit unseren Körpern abzudecken. Manche Leute schrieen vor Angst oder protestierten heftig. Chaos! Auf einmal griff eine Gestalt nach dem Mantel einer meiner Schwestern und riß ihn von ihrem Leib.

Dieses ganze Plünderungsdrama wurde umrahmt von anhaltendem Gewehrfeuer. Wir wußten nicht, ob wir damit gegen die Plünderer verteidigt wurden, oder ob die Schüsse uns nur täuschen oder ängstigen sollten. Offenbar steckte der Lokomotivführer und anderes Zugpersonal mit den Räubern unter einer Decke. Es dauerte lange, bis der Zug endlich langsam wieder anrollte.

Am nächsten Morgen kamen wir an eine Station, Schneidepunkt vieler Strecken und wohl auch die Grenze zwischen dem nunmehr von Polen zu verwaltenden Pommern und der sowjetischen Besatzungszone. Wir mussten die Waggons verlassen und stundenlang auf einem unbedachten Bahnsteig warten. Keiner wusste, wie es weitergehen würde. Alle hatten schrecklichen Hunger und waren todmüde. Ich lehnte über einem Bündel von Sachen auf unserem Wägelchen. Plötzlich wurden meine Unterschenkel abgetastet. Ich drehte mich um und sah einen Polen in Uniform. Der drückte mich rückwärts über den Wagen und riss mir die langschäftigen Stiefel von den Füßen, die mein ganzer Stolz gewesen waren. Er warf mir ein paar ehemalige Schuhe hin, die vorn nur noch die Lederkappe hatten, hinten aber weder Absätze noch Sohlen.

Irgendwann an diesem Tag wurden wir dann zu einem anderen Bahnsteig geführt, wo ein Personenzug bereitstand. Wieder waren die Wagen vollgestopft mit Menschen. Aber wenigstens gab es Sitzplätze für die Eltern mit den kleineren Mädchen. Mein Bruder und ich stiegen aufs Dach eines Wagens, weil wir uns da wenigstens ausstrecken konnten.

Während des ersten Teils der langsamen Fahrt beobachteten wir dann Szenen, wie sie in einem Krimi nicht besser dargestellt werden könnten: Polnische Banditen in braunen Uniformen plünderten, warfen Bündel von Sachen aus den Fenstern in die Gräben neben den Gleisen. Sowjetische Soldaten jagten die Banditen über den ganzen Zug. Wenn die Sowjets mit ihren Gewehren in den Waggons waren, liefen die Banditen auf den Dächern herum, und wenn die Soldaten auf die Dächer kamen, hangelten sich die Banditen auf die Plattformen herunter und tauchten in den Waggons unter. Dann hörten wir die Schreie von Frauen, die um ihre Sachen kämpften und wussten immer, wo die Banditen waren. Die Soldaten – ich glaube es waren nur zwei oder drei, die den Zug offenbar beschützen sollten – hatten keine Chance. Schießen hätten sie in dem überfüllten Zug ohnedies nicht können, ohne Zivilisten zu treffen. Am Ende dieser zweiten Plünderung sprangen die Banditen vom langsam fahrenden Zug, indem sie sich geschickt abrollten und liefen an den Gräben entlang, um ihre Beute einzusammeln.

Unterwegs hielt dann der Zug in einer Kleinstadt außerhalb Berlins für lange Zeit an. Hier wagte es Vater auszusteigen und mit meinem Bruder in die Stadt zu gehen, um etwas zu Essen zu ergattern. Er tat das auf die Gefahr hin, dass der Zug weiterfahren und wir getrennt würden. Er kam aber nach einiger Zeit wieder und brachte eine große Tüte mit Brotkrümeln, die er in einer Bäckerei bekommen hatte. Wir hatten endlich wieder etwas zu essen. Ich muss heute noch staunen über diesen kleinen Mann, der sich durch nichts unterkriegen ließ, sondern immer einen Ausweg wusste.

An der Grenze Berlins hielt der Zug wieder lange in einem Ort. Es hieß, alle Reisenden, die keine spezielle behördliche Erlaubnis von der sowjetischen Militärregierung hatten, nach Berlin zu fahren, mussten hier den Zug verlassen. Berlin war total zerstört und mit Menschen überfüllt, für die diese Stadt der Knotenpunkt in Deutschland war, von dem aus jeder seinen Weg in eine andere Richtung suchte. So wollte man nicht noch mehr Menschen in die Stadt lassen. Jeder einzelne Insasse des Zuges wurde von sowjetischen Soldaten überprüft. Als die Reihe an unsere Familie kam, zeigte Vater seinen Entlassungszettel mit dem schon erwähnten dreieckigen Stempel. Als der Soldat den Stempel sah, zeigte er ihn einem anderen Deutschen, der nicht verstand, warum sein Papier keinen Wert habe, und bedeutete, dass dies der Stempel sei, den er brauche, um die Weiterfahrt zuzulassen. Der Soldat hatte die russischen Sätze auf dem Papier natürlich nicht gelesen, die nichts mit einer Erlaubnis für Berlin zu tun hatten. Wir alle fühlten, dass unser inneres Schreien zu Gott erhört worden war.

Mit mehr Platz im Zug fuhren wir endlich weiter ins Berliner Zentrum. Ich weiß den Bahnhof nicht mehr, aber wir mussten lange durch die völlig zerstörten Straßen wandern, bis wir endlich bei Freunden aus einer christlichen Gemeinde in Charlottenburg ankamen, die uns in ihre teilweise zerstörte Wohnung zur Nacht aufnahmen. Ich kann mich nicht besinnen, auf unserem langen Marsch durch die Stadt, ein einziges nicht zerstörtes Haus gesehen zu haben. Es war Sonntag und die Stadt war ziemlich still. Ich konnte auf meinen Schlorren, mit den Hacken meiner Socken auf der Straße, kaum noch laufen. Die christliche Familie teilte das wenige Essen, das sie hatte, mit uns.

Ich schlief in der Nacht auf dem Fußboden eines Zimmers, wegen der Enge des Raums mit meinem Kopf unter einer Nähmaschine. Morgens wurde ich vom Singen eines Liedes wach: Es war der 24. September 1945, mein 15. Geburtstag. Über all den Erlebnissen der letzten Tage hatte ich meinen Geburtstag ganz vergessen.

[Eine alte Bekanntschaft]

Am gleichen Tag noch brachen wir wieder auf und zwar in Richtung Anhalter Bahnhof, von wo aus die Züge in Richtung Naumburg fuhren. Schon in der Nähe des riesigen Bahnhofs, dessen Halle als eisernes Stahlgerippe allerdings ohne die Glasbedachung noch aufrecht stand, sahen wir riesige Menschenmengen stehen, die alle auf einen Zug warteten. Hoffnungslos, sich mit der achtköpfigen Familie da einen Weg durch’s Gedränge bahnen zu wollen. Vater entschied sich, einen anderen Bahnhof zu versuchen und einen Umweg nach Naumburg zu finden. War es der Görlitzer Bahnhof? Dort waren zwar auch sehr viele Menschen, aber wir konnten schließlich einen Zug besteigen. Inzwischen war es Abend geworden, darum fuhr der Zug nur bis zu einer Kleinstadt, wo wir den Zug verlassen mussten. Offenbar war es zu gefährlich, nachts zu fahren. Der Bahnhof dieser Stadt hatte zum Glück ein Gebäude, worin wir mit unseren Sachen ein notdürftiges Lager bereiten konnten, um den nächsten Morgen und vielleicht einen anderen Zug zu erwarten. Wir hatten mächtigen Hunger.

Vater erinnerte sich beim Namen des Städtchens daran, dass er in seiner Junggesellenzeit in Naumburg einmal das Zimmer mit einem Bäckergesellen geteilt hatte, der in diese Stadt, in der wir gestrandet waren, gezogen war. Vater entschied sich, mit mir in die Stadt zu gehen und die mögliche Bäckerei dieses Mannes zu finden. Eine wahnsinnige Idee, wie ich meinte, denn es waren ja mindestens sechzehn Jahre seit der Bekanntschaft jener Tage vergangen, in denen es keinerlei Verbindung gegeben hatte. Nazizeit und sechs Jahre Krieg lagen dazwischen. Wir beteten jedenfalls um Führung und Brot.

Es war schon Mitternacht, als wir beide durch die Bahnhofsstraße gingen. Nach einer Zeit gabelte sie sich. Sollten wir nach rechts oder nach links gehen? Vater entschied sich für links. Weiter ging’s. Ich weiß nicht wie, aber wir standen auf einmal vor einem kleinen Bäckerladen mit Schaufenster, in dem nichts zu sehen war, aber über dem der Name des Bekannten von Vater stand. Ich hatte schon unterwegs meine Bedenken gegen dieses Unternehmen angemeldet. "Wie gut kanntet Ihr Euch denn, Vati?" Jetzt standen wir vor dem Laden. Immer noch hatte ich nicht begriffen. "Vati, die Leute schlafen schon, mir ist das peinlich." Ich wusste, dass Bäcker gewöhnlich schon um drei oder vier Uhr morgens aus dem Bett müssen. Vater fand eine Klingel und drückte sie. Endlich kam ein verschlafener Mann an die Tür. Vater stellte sich vor, erinnerte an die Zeit vor über sechzehn Jahren in Naumburg und bat um Brot. Der Mann schien sich nicht zu erinnern. Mürrisch machte er die Tür zum Laden auf und reichte uns zwei Brote über den Ladentisch. Vater zog als Sieger davon. Ich nur als staunender Beobachter.

Heute weiß ich, dass Vater jüdisch glaubte im Sinne von ‘hutzpa’. Erwartete nicht, wie ich es im pietistischen Glaubensverständnis unserer Mutter beobachtet hatte, in ‘Demut’ auf die Wunder oder das Schicksal aus den Händen Gottes, sondern er ging in den verschiedensten Lebenssituationen den Fremden oder das Fremde an und rang mit ihm: "Ich lasse dich nicht, Du segnest mich denn." Heute sehe ich klarer, dass man von Vater sagen kann, was Jakob nach seinem Kampf gesagt bekam: "Du hast mit Gott und mit Menschen gerungen und hast gesiegt." (1. Mose 32,26.28). Gott lässt sich offenbar gern in dem Fremden oder in den befremdenden und schwierigen Umständen unsres Lebens finden, um sich besiegen zu lassen. Nun sage mir jemand, dass Glaube und Theologie keine Rolle mehr im modernen Leben zu spielen habe.

[Krankheiten und Hunger]

Am nächsten Tag bekamen wir einen Zug nach Naumburg. Hier nahmen wir zwar Verbindung mit Großmutter auf, wurden aber behördlicherseits in einer Schule untergebracht. War es die Michaelisschule? Wir schliefen auf Strohlagern, die mit Tüchern bedeckt waren. – Ein wesentlicher Abschnitt unserer Familiengeschichte war mit unserer Ankunft in Naumburg zuende gegangen und ein neuer, nicht weniger dramatischer, sollte beginnen.

In Naumburg bestand eine der ersten Aktionen in unsrer medizinischen Untersuchung. Ich hatte Arme und Beine voller offener Wunden, die Krätze und Hungerödeme. Auch mein Bruder und die vier Mädchen waren schlimm dran. Wir wurden entlaust und von Kopf bis Fuß dick mit einer Art schwarzer Wagenschmiere eingerieben und in ein Leinentuch gewickelt, bis die Krätze überwunden war. Ich hatte aber auch danach noch über Jahre hin mit eiterigen Geschwüren zu kämpfen, die wohl mit der Unterernährung zu tun hatten, ebenso auch meine Geschwister.

Für zwei Wochen kamen wir in ein Flüchtlingslager im Osten von Naumburg, in dem Vater und ich zu verschiedenen Lagerarbeiten angestellt wurden. Es gab hier täglich eine wässrige Kohlsuppe. Viele Menschen starben an Tuberkulose und anderen Krankheiten. Der Hunger war quälend und es fehlte uns einfach die Kraft zur Arbeit. Mir sind besonders die schauderhaften Latrinen im Gedächtnis. Man musste da ohne Abschirmung auf langen Brettern mit Löchern darin nebeneinander sitzen – und alle hatten Durchfall.

[Lehre als Karosseriestellmacher]

Vater bekam schließlich Arbeit als Stellmachermeister wieder bei der Firma Carl Zimmermann, wo er über fünfzehn Jahre vorher seine Stellmachermeisterprüfung abgelegt hatte. Inzwischen war er Karosseriebaumeister geworden. Kurz darauf nahm er mich in die Lehre als Karosseriestellmacher bei der gleichen Firma. In der Landeskirchlichen Gemeinschaft am Domplatz 7 wurde die Hausmeisterstelle und -wohnung frei. Wir übernahmen beides und zogen schon bald in die kleine Parterrewohnung des Hauses neben dem Gemeindesaal ein. Fortan waren wir völlig in das Gemeindeleben integriert. Es gab hier auch noch den schon früher erwähnten EC (Jugend für Entschiedenes Christentum - Christian Endeavour), in dem ich mich so weit wie möglich engagierte.

Während der ersten Monate meiner Lehrzeit wurden alle Gesellen und auch Vater von den sowjetischen Militärbehörden in größere Fabriken beordert, um Maschinen und Einrichtungen zu demontieren und in die Sowjetunion zu verladen. Überall sah man aufgebrochene Fabrikwände, aus denen Maschinen herausgenommen worden waren. Damit wurden sogenannte Reparationen an die Siegermacht bezahlt. Ich war für etwa sechs Wochen ganz allein in der Werkstatt. Hier durfte ich noch keine Maschinen benutzen, weil ich noch nicht sechszehn war. Ich hatte gelernt, das Hartholz, das ich zur Reparatur von Wagenrädern oder anderen Teilen von Fahrzeugen brauchte, mit der Faustsäge aufzutrennen. Das war sehr schwere Arbeit, die mich völlig erschöpfte.

Schon bald wurde die Berufsschule wieder in Gang gebracht. Alle holzverarbeitenden Berufe waren hier zunächst in einer Klasse zusammengefasst. Wir hatten wöchentlich zwei halbe Tage Schule – eine willkommene Abwechslung von der schweren Arbeit in der Werkstatt. Man musste nur kämpfen, damit man nicht vor ständiger Erschöpfung einschlief. Es wurden einfache Mathematik, technisches Zeichnen, Werkstoffkunde und natürlich politische Bildung (im Sinn des Marxismus) unterrichtet. Vater wurde Berufsschullehrer für technisches Zeichnen.

Im Jahr 1947 machte sich mein Vater selbständig und nahm mich in meinem dritten Lehrjahr zu sich. Wir mieteten eine Scheune an der Georgenmauer 8 als Werkstatt. Vater besorgte die nötigsten Werkzeuge und baute mit Hilfe eines Drehers die Maschinen, die wir brauchten. Im Naumburger Heereszeugamt fanden wir eine gummierte Panzerrolle, die uns der Dreher halbierte, sodass daraus die beiden Rollen einer Bandsäge entstanden. Eine Hobelmaschine (Abrichte) hatte einen verschiebbaren Holztisch. Andere kleine Maschinen, wie Bohr- und Drechselmaschinen entstanden ebenfalls aus Teilen, die wir im Zeughaus ergattern konnten. Schrauben und Nägel wurden sorgfältig aus Trümmern aufgelesen. Wir mussten viele Überstunden arbeiten, um jeweils das Material für die Arbeit zusammen zu bringen.

[Waren einer Stellmacherei]

In der Werkstatt stellten wir neben Fahrzeugauf- und umbauten auch Handschlitten und Handwagen in Serien von je 20 Stück her. Sie wurden von vielen zum sogenannten "Hamstern" gebraucht, wobei das Wort natürlich die Sache nicht traf, weil man ja nur das Nötigste zum Überleben zusammenbettelte. Vater kaufte Nutzholzbestände in Wäldern der Umgebung. Wir fällten die Bäume dann selbst, luden sie auf Pferdewagen und ließen sie zu einer Sägemühle bringen, wo wir sie abluden und schließlich zu Bohlen zerschnitten zur Werkstatt transportierten. Schwere Arbeit für meine unterernährten Knochen. Damit hatten wir aber noch kein brauchbares Holz. Die Bohlen hätten eigentlich jahrelang auf Lager liegen und trocknen müssen. Aber Vater hatte auch hier wieder eine Lösung. Wir bauten uns einen Blechofen, in dem wir das Holz auskochen und dadurch von seinem natürlichen Saft befreien konnten. Dann brachten wir es zu einem Bäcker auf den Backofen zum Trocknen. Einmal zog ich allein im Winter mit einem Schlitten bis nach Freyburg, um ein Stück Bohle in der Länge einer Wagendeichsel abzuholen und nach Naumburg zu bringen. Ich zog den Schlitten nur auf Feldwegen, weil entweder auf der Straße nicht mehr genug Schnee lag, oder sie zu sehr belebt war. Das habe ich auch nur mit größter Mühe geschafft und bin unterwegs öfter zusammengeklappt.

Wir fabrizierten in einer Zeit auch Holzschuhe. Es gab keine Lederschuhe zu kaufen. So schnitten wir Holzsohlen und nagelten Leinentuch über Formen. Wir haben diese Holzschuhe jahrelang auch selbst getragen. Für den Sommer fertigten wir Holzsandalen an. Eine Zeitlang produzierten wir Holzsohlen in Serie für eine Schuhfirma in der Stadt. Vater wurde in diesen Jahren Obermeister der Stellmacher-Innung.

[Alltag in der Nachkriegszeit]

An unserem Hungerleiden hatte sich seit unserer Ankunft in Naumburg wenig geändert, im Gegenteil, durch die schwere Arbeit in der Werkstatt wurde der Hunger noch unerträglicher, als er es vorher schon war. Mutter hatte uns Ersatzkaffe besorgt. Das war geröstete Gerste. Vater und ich hatten je eine Tüte in unserem Blechschrank in der Werkstatt stehen. Wenn der Hunger zu stark nagte, nahmen wir immer wieder mal einen Löffel von diesem schauderhaft schmeckenden Zeug und kauten darauf herum. Ich war oft so ausgehungert, dass ich mich auf dem Weg von der Arbeit mehrfach an den Gehweg setzen musste und Wasser spuckte. Zudem bekam ich eitrige Geschwüre unter fünf Fingernägeln. Ich hatte solche schon lange an den Armen und Beinen. Es gab keine Medizin. So wurden immer nur Verbände darumgewickelt.

Die Kunden, meistens Bauern, bezahlten die Arbeit mit Naturalien statt mit Geld. Vater baute sich nach und nach einige kleine Pressen, die im wesentlichen aus Stahlschnecken mit Gehäusen bestanden, mit denen wir Raps- und Mohnsamen pressen konnten, um Öl zu gewinnen. Abends nach Feierabend, wurden die Werkstattfenster verhängt, die Werkstatt abgedunkelt und verriegelt und die kleinen Pressen aufgestellt. Das Pressen war, wie so vieles andere auch, natürlich streng verboten und hätte uns Gefängnishaft kosten können. Wir pressten viele Liter Raps- und Mohnöl für die Bauern. Als Lohn nahmen wir zehn Prozent des gepressten Öls. Außerdem behielten wir natürlich die Rückstände. Diese konnten mit anderen Zutaten gemischt und gebacken werden. Dieses Öl und die Rückstände haben uns wesentlich geholfen, unseren Gesundheitszustand zu verbessern.

Im Zusammenhang mit dem Ölpressen verdient noch eine kleine Geschichte der Erwähnung. Durch den Geruch des gepressten Raps und Mohn wurden natürlich Ratten und Mäuse auf unsere Werkstatt aufmerksam, die nicht weniger Hunger litten als wir. Gegen die Ratten bauten wir im kleinen Hof Fallen. Die Mäuse wurden in gelegentlichen Aktionen vernichtet. Wir stöberten sie auf, und natürlich flohen sie immer an den Wänden entlang. Wenn sie dabei über den Spänehaufen an der Hobelmaschine klettern mussten, wurden sie langsamer. Und da stand unser jüngster Lehrling und trat die Mäuse unter seinen Holzschuhen tot. Er hat sich nach jedem ‘Mord’ am ganzen Körper geschüttelt, der arme Kerl. Aber wie überall in den Handwerksstätten üblich, musste der jüngste Lehrling immer die schlimmsten Arbeiten verrichten, die sonst keiner wollte. Ich hoffe, er hat uns diese Grausamkeit gegen ihn vergeben. Unser Vermieter zerhackte die toten Mäuse dann fein säuberlich zu Hühnerfutter.

Oft zogen wir auch über Land, im Winter mit einem Schlitten, im Sommer mit einem Handwagen, um von den Bauern Kartoffel, Rüben, Mehl und dergleichen zu erbetteln. Manchmal geschah das im Zusammenhang mit dörflichen Hausversammlungen von christlichen Gruppen.

In den Wintern dieser Jahre gab es natürlich auch kein Brennmaterial. So wurde es unter der Bevölkerung üblich, Kohlenzüge, die in Richtung Osten nach Polen und Russland fuhren, zu überfallen. Es wurden auf freier Strecke Sperren aufgebaut, sodass der Zug anhalten musste. Und dann stürzten sich hunderte von Leuten auf den Zug und warfen die Briketts von den Waggons. Andere sammelten sie auf und säckeweise wurden die Kohlen weggeschleppt. Wir entschieden in unserem Familienrat, dass wir da aus moralischen Gründen nicht mitmachen konnten.

In der Werkstatt hielten wir uns warm durch selbstgebaute Späneöfen. In eine Öltonne wurde unten in der Mitte ein rundes Loch von etwa 10 cm geschnitten, in das ein rundes Holz in der Höhe der Tonne gesteckt wurde. Dann stampften wir Sägespäne um dieses Holz. Schließlich wurde es herausgezogen und von unten in dem entstandenen Zylinder das Feuer angezündet. Das hielt für einen Tag an. Für zu Hause konnte Vater einmal eine Wagenlast roher Braunkohle bekommen. Wir bauten uns aus Holz Brikettformen und haben dann tagelang die Braunkohle mit Wasser und etwas altem Motorenöl gemischt in den Formen mit Hammer und Stempel zu Briketts gepresst.

[Stellmacherhandwerk im Wandel]

Im Herbst 1948 machte ich meine Gesellenprüfung als Karosseriestellmacher in Weißenfels. Als Gesellenstück fertigte ich eine Autotür an. Ich bestand die Prüfung vor einem Gremium älterer Stellmachermeister, die keine Ahnung von Karosseriebau hatten und zunächst mein Gesellenstück nicht anerkennen wollten. Vater hat sich aber durchgesetzt. Ich blieb danach noch ein Jahr als Geselle in seinem Betrieb. Im Jahr 1949 verließ ich Naumburg und ging nach Erfurt. 1950 zogen meine Eltern vom Domplatz in die Kösener Straße 13, wo mein Vater seinen Betrieb neu einrichtete.

Inzwischen hatte sich das Stellmacherhandwerk mehr und mehr zum Karosseriebau hin gewandelt. Nur wenig wurde noch mit Holz dagegen zunehmend mit Blech, Aluminium und Eisen gearbeitet. Vater nannte seinen Betrieb nun Ernst Voll Karosserie- und Fahrzeugbau.

Bis zu 10 Angestellte arbeiteten inzwischen in seinem Betrieb, wo er zuerst auch Karossen für VW Busse mit Gerüsten aus Holz und später einachsige Anhänger für Kompressoren und Bohrmaschinen baute.

2 Beiwagen (Straßenbahnanhänger) aus Halle wurden von seinem Betrieb um 1970 für die Naumburger Ringbahn umgebaut.

Im Zuge der Verstaatlichung der Betriebe der DDR wurde auch sein Betrieb zur Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) erklärt. Er blieb aber bis zu seinem Ruhestand Mitglied und hatte noch eine Weile den Vorsitz in der PGH.

Um 1950 war unser Vater Mitglied der evangelischen Kirche St. Moritz geworden und aktiv im Gemeindekirchenrat. Um diese Zeit wurde er auch Mitglied der Kreissynode. Im Ruhestand hatten unsere Eltern immer ein offenes Haus für Jung und Alt. Sie unterhielten einen wöchentlichen Gesprächskreis, zu dem bis zu seinem Tod auch Theologiestudenten vom Naumburger evangelischen Pro- und Oberseminar kamen, die heute Pastoren sind. Die Zusammenlegung der beiden Kirchgemeinden zu Moritz / Othmar hatte Vater mitbeschlossen. Er hatte einen großen Freundes- und Bekanntenkreis, der ihn in seiner bescheidenen und humorvollen Art hochschätzte.

Vater starb 1983 mit fast 81 Jahren. Unsere Mutter starb 1997 in Naumburg mit 93 Jahren. Beide sind mit unserem Bruder, der mit 18 Jahren in der Saale ertrank, in Naumburg beigesetzt. Zwei meiner Schwestern leben mit ihren Ehegatten nach wie vor bzw. wieder in der Kösener Straße und halten mich mit meiner Heimatstadt verbunden.

Ich selbst lebe mit meiner Frau in Calgary, Alberta, Kanada, von wo aus ich Naumburg mehrfach besuchte. Die Stadt ist mir wichtig nicht nur als Geburtsort und Ort des Beginns meiner beruflichen Laufbahn, sondern auch als Zufluchtsort nach den Jahren der Bedrängnis der Nazizeit, des Krieges und der Nachkriegswehen. Ich wünsche ihr Frieden und Gedeihen.