Kriegsende im November 1918. Joachim war auch Domschüler, deswegen ist sein Name auf der Gedenktafel im Kreuzgang des Domes aufgeführt. Nach den Garnisonen in Pasewalk und in Hannover (KPMRI) kehrte die Großmutter als alleinstehende Witwe in die Heimat nach Naumburg zurück und wohnte am Moritzplatz 1. Dieses Haus war für ihre Enkel, uns vorerst nur 3 Geschwister seit frühester Kindheit der Ort der Erinnerung, dort wo wir bei jedem Umzug der Eltern, nach Halle, nach Berlin in Obhut der Großmutter kamen. Doch auch zu Geburtstagen fuhren wir nach Naumburg, von Halle, wo ich zur Schule kam, war es ja nicht so weit. So erinnere ich mich noch an den Beginn der Elektrifizierung der Saale-Bahn 1940 bis nach Weißenfels. Dort in Weißenfels wurde lange Zeit lang umgespannt. Und im E-Lok-Schuppen standen rote E 18, was für Kinder unheimlich interessant war. 1941 sah ich dann in Naumburg das deutsche Krokodil, die E 94 vor einem Güterzug. Wir waren mal wieder in Obhut bei der Großmutter wegen eines Umzuges nach Berlin. Auch schon 1939 waren meine ältere Schwester und ich dort in Obhut, denn unsere Mutter erwartete ein 4. Kind, das leider die Geburt nicht überlebte. Es waren noch Friedenszeiten und deshalb verkehrte noch der fliegende Frankfurter oder Münchener, den wir immer wieder vom Spechsart aus von oben bewunderten, großer Hoheitsadler an der Frontseite. Die Farben Weißgelb/Violett waren auch einmalig schön.
Auch 3 Schwestern unserer Großmutter wohnten in Naumburg, Medlerstr 30 Hilde v. Sperling, in der Luisenstr. Walburg Radermacher und in der Lutherstr. 16 Erika Niemeier. Ein noch lebender Bruder, Siegfried v. H. wohnte in Bad Kösen, Salinenstr. 7. Dort in Kösen erhielt ich wegen chronischer Mandelentzündung (im ungesunden Klima von Halle) oft Solebäder, wohin mich unsere Großmutter geleitete.- Auch zum Zahnarzt fuhren wir mit der Bahn extra nach Naumburg, Quartier Lutherstr. 16 bei der jüngsten Schwester unserer Großmutter. Es war erst Ende Oktober, 1940, und trotzdem schon Schnee zum Schneemannbauen.
Nach 3 Jahren in Halle wurde unser Vater in das OKH (Oberkommando des Heeres) nach Berlin versetzt. Berlin war nun deutlich weiter von Naumburg entfernt als Halle. Wussten wir doch nicht, dass die Zeit in Berlin nur gut 2 Jahre dauern würde. Denn im Sommer 1943 wurden alle Schulen in Berlin geschlossen, wegen sich häufender Luftangriffe. So fanden wir endgültig Unterschlupf bei unserer Großmutter in Naumburg. Unsere jüngste Schwester war schon im August 1943 in Naumburg in einer Klinik in der Friedenstrasse geboren worden, nicht mehr zu Hause. Kurz vor der Taufe der kleinen Schwester am 1 . Advent 43 war das Haus in Berlin, in dem wir wohnten, durch Brandbomben zur Mauerruine geworden. Doch Geschirr in Kisten im Keller konnte noch gerettet werden, nun zum 2. Male gebrannt.

2. Kindheit in Naumburg

Als wir Kinder nach Naumburg kamen, war ich erst 9 Jahre alt, und ich ging noch ein knappes Jahr zur Salztorschule. In Erinnerung ist mir der Deutsch- und Heimatkunde-Lehrer Görlich. (Sein Sohn war schon Schüler des Domgymnasiums.) Der Klassenlehrer Görlich brachte uns mit viel Begeisterung die Heimatkunde nahe. So zeichneten wir den Verlauf der Saale von der Talsperre bis zur Mündung in die Elbe und auch den Verlauf der Unstrut mit Finne, Schrecke und Schmücke, nebst Hainleite, Kyffhäuser und Eichsfeld. Auch der Thüringer Wald und das Erzgebirge waren uns ein Begriff. Anhand der Höhe des Wenzelskirchen-Turmes machte Görlich uns die Höhe des Inselsberges klar. Auch der Kikelhahn mit Goethes “Über allen Wipfeln ist Ruh ...” war uns vertraut. Natürlich lernten wir auch die Legende vom Hufeisen auswendig. Ist es nicht erstaunlich, was 9jährigen Schülern damals in der Salztorschule alles beigebracht wurde.
Religionslehrer war Herr Blütgen. Als ich 1991 zum Naumburger Hussiten-Kirschfest kam, erinnerten sich noch einige ältere Naumburger an ihn. Wenn Herr Blütgen am Gründonnerstag die Passionsgeschichte erzählte, war es mucksmäuschenstill. Musiklehrer war Herr Starke, bei ihm lernten wir alle Tonleitern und auch zweistimmig nach Handzeichen singen. Eine Faust war der Grundton, eine Oktave höher wieder eine Faust. Wir sangen vokalisierte Töne.

5. Dienst im Deutschen Jungvolk (DJ)

Immer auf den 20. April (Hitlers Geburtstag) war die Pflichtaufnahme in das Deutsche Jungvolk gelegt. Das DJ gehörte zwar organisatorisch zur Hitlerjugend, war aber seiner Herkunft nach eine gleichgeschaltete Einrichtung. Wer nicht unbedingt in die HJ wollte, wurde gerne Führer im Jungvolk. So waren die Schüler der oberen Klassen des Domgymnasiums meist Führer im Jungvolk.
Im Juni 1944 gab es eine Woche der Jugend, nun zusammen mit der Hitlerjugend. Dabei sah man erstmalig die Marine-HJ. Es war angeordnet worden, eine Woche lang Uniform zu tragen. So erschienen wir zur Beerdigung eines Klassenkameraden sämtlich in Uniform. Es wurde auch ein Vorbeimarsch eingeübt, mit angewinkeltem Arm und Daumen hinter dem Koppelschloß. So zogen wir von der Vogelwiese durch die Jakobsstraße zum Markt. Die Jungmädel bildeten Spalier. Meine Schwester meinte, es habe ausgesehen, als wenn wir alle Bauchkneifen gehabt hätten. Das Rathaus war mit riesigen Hakenkreuzfahnen beflaggt. 2 Jahre später waren es dann nur noch rote Fahnen. Den weniger verblichenen Kreis mit Hakenkreuz sah man dann noch. Eindrucksvoller war die feierliche Aufnahme vor dem Langemarck-Denkmal oberhalb des Bürgergartens. Da wurde uns beigebracht “Ein Hitlerjunge macht keinen Diener” beim Händedruck.

4. Domgymnasium

Noch im Juni 1944 bestand ich die Aufnahmeprüfung zum Domgymnasium. Interessanterweise wurde bei der Aufnahme ein Taufzeugnis verlangt. Immerhin war das Domgymnasium eine evangelische Schule, die dem Domkapitel unterstand. War dieses Taufzeugnis etwa eine Maßnahme zur Fernhaltung von Schülern des alten Mosaischen Glaubens? Katholische Schüler wurden aber aufgenommen. Der Direktor des Domgynasiums war Steche, Koautor des Biologiebuches Steche, Stengel und Wagner. War Steche ein eingefleischter Nazi? Ich glaube es nicht so ganz. Aber er orientierte sich wohl mehr an Sparta als an Athen. In unserer Aula, der jetzigen Marienkirche am Dom hing ein riesiger roter Hoheitsadler mit Hakenkreuz. An der Wand neben dem Rednerpult ein Bild des Führers, gemalt von Herrn Scheibe, dem Zeichenlehrer, auch Lehrer für Werkunterricht und Biologie, Meine Großmutter wusste, dass er Logenbruder war; deswegen mußte er nun 150%iger Nazi sein. Nach 1945 konnte er bleiben. Er wurde später sogar Schulleiter. Unser Mathematiklehrer Friedrich wurde jedoch abgeholt und verschwand auf Nimmerwiedersehn, er war bestimmt kein Nazi. Nur bei der Unterbringung von Flüchtlingen hatte er sich vorbildlich eingesetzt. “Es sind doch unsere Brüder” sagte er häufig.
Lehrer für Latein, Griechisch und Deutsch sowie Religion war Prof. Güldenberg. Er kam von der Universität Halle, wo er bei der Theologischen Fakultät in der NS-Zeit nicht gern gesehen war. So nahm er Zuflucht zum Domgymnasium. Zu seinem Schütze trug er das Parteiabzeichen Er war unser Ordinarius - der Klassenlehrer -. Er unterrichtete uns in Latein, Deutsch und Religion. Im Herbst 1944 lernten wir schon das Adventslied “Mit Ernst o Menschenkinder ...”, Nr.10 im ganz neuen Gesangbuch. Dazu die Geschichte von Johannes dem Täufer. In der Adventszeit immer in der ersten Stunde wurde das Licht ausgeschaltet und wir sangen beim Kerzenschein des Adventskranzes “Macht hoch die Tür, die Tor macht weit ...” (Nr.1). “Die Nacht ist vorgedrungen ...” (Nr. 16) von Jochen Klepper gab es damals noch nicht, durfte es auch nicht geben.

5. Superintendent Möring

In besonderer Erinnerung ist mir Superintendent Möring und seine Weihnachtspredigten. Verstanden habe ich wohl das Meiste nicht, aber die Weissagungen aus Jesaja 11, 1-2 sind mir doch gut in Erinnerung geblieben: “Es wird eine Rute aufgehen ...”. Dann sang der Domchor das sehr schöne Lied “Es ist ein Ros entsprungen...” mit der Melodie von Michael Praetorius. Einmal verglich Möring die Türme von St. Wenzel und diejenigen des Domes mit einer ausgesteckten Hand, wenn man von den Höhen gegenüber Almrich auf Naumburg schaut.
Meine Schwester hatte bei Möring Konfirmandenunterricht und wurde von ihm, nachdem er alle Konfirmandenfamilien vorher besucht hatte, zu Pfingsten 1947 konfirmiert. Anfang Juli wurde meine Großmutter von ihm beerdigt, nachdem ihre 3 Alterswünsche in Erfüllung gegangen waren, Rückkehr unseres Vaters aus der britischen Kriegsgefangenschaft in Italien, die Konfirmation meiner Schwester und schließlich ihr eigener 80. Geburtstag.

6. Das Ende 1944/45

Am 9. November 1944 wurde ich in Abwesenheit zum Hordenführer beim Deutschen Jungvolk befördert. Gotthard Lange, Paul Binderich und ich hatten den ganzen Nachmittag bis in die Abendstunden bei Nieselregen Flüchtlingen das Gepäck vom Bahnhof in ihre neuen Quartiere gekarrt. Dann hatte ich genug und dachte mir, was es denn solle: Antreten zur Beförderung. Martin Assmus war unser Jungzugführer, später auch Fähnleinführer. Er fragte mich am nächsten Morgen oben an der Treppe im Domgymnasium nach dem Grunde meiner Abwesenheit. Ich übertrieb etwas die Dauer des Gepäckkarrens und er war zufrieden. Laut Befehl des vorherigen Fähnleinführers hatte ich unter Einspannung der ganzen Familie 20 kg Hagebutten gesammelt. Die Beförderung als erster des Jungzuges (Führeranwärter) war nun die Belohnung. Doch die Erfahrung beim Hagebutten sammeln auf dem Rödel über Balgstädt kam uns nach dem Zusammenbruch sehr zu gute, denn nun kannten wir die Stellen mit guten und ertragreichen Sträuchern. Und das verarbeitete Hagebuttenmus war für uns eine wichtige Nahrungsquelle. Im Februar 1945, wohl noch nach dem schrecklichen Angriff auf Dresden, wurde das Volksopfer organisiert. Angetreten auf dem Marktplatz mußten wir in Sprechchören rufen: “Lasst nichts verkommen und verrosten, helft unseren deutschen Volksgenossen aus dem Osten. Wir rufen euch zum Volksopfer auf.”
Am 20. April rückten die Amerikaner ein, nachdem Naumburg noch ein Bombardement hatte über sich ergehen lassen müssen. An der Weißenfelser Straße hatten sie unter offenem Himmel auf einer Wiese ein Kriegsgefangenenlager eingezäunt. Wir sparten uns Brot vom Munde ab für die deutschen Kriegsgefangenen. Die Kirche hatte dazu aufgerufen. Aber die Amerikaner ließen es verschimmeln. Immerhin waren ja wenigstens die Amerikaner zuerst gekommen und nicht die Russen. Hatten wir doch Schlimmes von Nemmersdorf gehört. Die Russen kamen später im Juli 45 in langen Kolonnen mit Panjewagen, da waren sie schon zivilisierter, aber Fahrräder nahmen sie einem dennoch weg, wenn man alleine war.

7. Neuanfang

In der Übergangszeit bis zum Wiederbeginn der Schule wurden wir in sehr kleinem Kreise von Prof Güldenberg unterrichtet. Andere Klassenkameraden von Frau Dr. Meyer-Scherling. Ende des Sommers 1945 fing die Schule wieder an, Versetzung war zu Weihnachten. Es fehlte ja einige Zeit vom Schuljahr. Der Winter 45/46 war gnädig, aber der Winter 46/ 47 war schlimm, Unterricht in Mänteln und nur so lange man es aushielt, Lernen zu Hause. Aber, was lernten wir nicht alles “Die Bürgschaft”, “Die Kraniche des Ibikus”, “Die Glocke” und “consecutio temporum” bei Fuhrmann, unserem Lateinlehrer, genannt “calo”.
Inzwischen war auch Dr. Walter Haacke aus der Gefangenschaft zurückgekommen. Bei ihm hatten wir Musikunterricht. 1947 wurde er Kirchenmusikdirektor am Naumburger Dom. Er nahm uns mit auf die Orgel und erklärte sie uns, sie stand damals auf dem Westlettner. Jürgen Sauer zog sonntags die Register. Haacke machte uns sehr vertraut mit der Musik des Frühbarock, Schütz, Schein, Scheidt, und mit den Bachen, denn es war ja eine ganze Dynastie. Cembalo und Clavichord war uns natürlich sehr vertraut. Natürlich leitete er auch das Schulorchester. Es gab Aufführungen im Domhof. Frau Dr. Bevelein, unsere Hausärztin strahlte ihn an. Auch der Domchor wurde von ihm geleitet. So gab es Aufführungen von Bachs h-moll-Messe, ich glaube gar im Hunger-Sommer 1947. Auch zur Generalprobe von Johannes Brahms “Deutschem Requiem” durften wir im Ostchor des Domes kostenlos mit dabei sein. Haacke gab uns vorher eine Einführung. Vor ein paar Jahren wurde in Naumburg sein 90. Geburtstag gefeiert. Die 3 Jahre von 45 bis 48 sind mir zu einer Einheit verschmolzen, so dass es schwerfällt,, einzelne Ereignisse zu datieren.
Schmerzlich für uns waren die Enteignungen in Balgstädt und in Wilsickow bei Pasewalk, im Westen gab es dergleichen nicht. Doch zum Familientag am Himmelfahrtstag 2002 fand sich alles wieder in Naumburg ein. Nun bin ich Mitglied des Vorstandes des Holtzendorffschen Familienverbandes, der in Naumburg neu gegründet wurde. Das Schloß in Balgstädt steht unter Denkmalschutz, damals sollte es gesprengt werden, nur die Flüchtlinge im Schloß verhinderten dies. Vetter Sperling war doch etwas traurig, als wir am Tage nach Himmelfahrt Schloß und Kirche besichtigten, nach einer Gedächtniswanderung über den Rödel.

8. Umzug nach Aurich/Ostfriesland

Da unser Vater aus britischer Kriegsgefangenschaft nicht in die sowjetische Besatzungszone heimkehren durfte, blieb nichts anderes übrig, als zur Familienzusammenführung mit einigen Möbeln mit Hilfe der Firma Obst im März 1948 nachts über die grüne Grenze nach Homburg bei Börßum zu fahren, noch mit Reichsmark hoch bezahlt, Weitertransport nach Aurich mit einem Güterwagen auf der Schiene. In Aurich war unser Urgroßvater August Jung lutherischer Pastor gewesen. Eine unverheiratete Tochter lebte dort noch zwar im eigenen Hause, aber voll mit Flüchtlingen gestopft. Unsere Großtante nahm uns gnädig auf.
Was ließen wir alles in der alten Heimat zurück! Nun wurde Ostfriesland zur zweiten Heimat, das wir auch lieben lernten, es war doch sehr karg, aber in dieser Kargheit auch wieder schön. - Alle Birken grünen in Moor und Heid, jeder Brahmbusch leuchtet wie Gold. Ja, das wurde verinnerlicht, auch “de ostfreeske Taal”, das ostfriesische Platt.
11 Jahre später fuhr ich von Heidelberg 1959 zur Physikertagung nach Berlin mit dem Interzonenzug an Naumburg vorbei, aber aussteigen durfte man nicht. Doch beim Anblick von Saaleck und Rudelsburg, dem Gradierwerk in Bad Kösen, Schulpforta, dann die Türme von St. Moritz, Dom und St.Wenzel, dazu das Oberlandesgericht, wusste ich, was Heimat ist. 1991 war ich dann wieder richtig in Naumburg, stellte beim gemeinsamen deutsch/russischen Gottesdienst zum 40. Jahrestage des Überfalles auf die Sowjetunion auf Befehl Hitlers durch deutsche Truppen eine Kerze auf für Nadja Anastasia Smoljakowa, unser Dienstmädchen aus der Ukraine.