Meine Überraschung ist groß, sehr groß. Vor mir liegt das Tagebuch unserer Klassenfahrt, welche uns vor 54 Jahren in das “Grüne Herz Deutschlands” führte. Beim Lesen holen mich die Erinnerungen an Tage der Fröhlichkeit und Heiterkeit, des Schauens und Staunens, an Wanderungen und sportliche Spiele, an Stunden der Gemeinsamkeit und Kameradschaft ein. Fotos illustrieren den Text. Sie zeigen mir meine ehemaligen Mitschüler. Von einigen weiß ich heute, dass sie gefallen, von anderen, dass sie verstorben sind. Ich finde Skizzen und eine Karte, in welche unsere Tagestouren eingetragen sind. Geschrieben sind die Texte in der so genannten “deutschen Schrift”, die zu lesen den meisten der heutigen Zeitgenossen Schwierigkeiten bereitet, ist sie doch die Schrift ihrer Groß- und Urgroßeltern.

Dieses Tage-/Fahrtenbuch hat seine Geschichte, und die möchte ich erzählen. Es ist auch zum Teil die Geschichte einer Jungenklasse der Mittelschule zu Naumburg an der Saale und ihres langjährigen Klassenlehrers. Dazu muss ich einige Bemerkungen voran schicken. Ostern 1934 wurden wir in die Klasse VI der Mittelschule zu Naumburg an der Saale aufgenommen. Die meisten hatten zuvor vier Jahre die Michaelis- oder Georgenschule besucht, einige sind Schüler der Katholischen Elementarschule gewesen, und auch Fahrschüler, deren Zuhause in Bad Kösen, Laucha oder Freyburg war, gehörten zu unserer Klasse.
Die Mittelschule befand sich im Gebäude des ehemaligen Lehrerseminars in der Eupener Straße.

Nach den Michaelisferien des Schuljahres 1934/35 übernahm ein junger Lehrer die Leitung unserer Klasse: Herr Albert Reble. (Noch im gleichen Jahr promovierte er zum Dr.phil.) Bis zum Tag seiner Einberufung im Jahr 1939 hat Herr Dr. Reble das Ordinariat für unsere Klasse innegehabt.
Herr Dr. Reble unterrichtete uns in den Fächern Deutsch, Geschichte und Musik. Mit methodischem Geschick führte er uns in den Unterrichtsstoff ein und gab uns dabei Denkanstöße und Hilfen für sinnvolles Lernen. So gelangten wir schon früh zur geistigen Selbsttätigkeit. Das Lernen bei Herrn Dr. Reble hat im allgemeinen Spaß gemacht.

"Auf nach Lauscha!" Zeichnung aus dem Reisetagebuch, 12.-19. Juni 1938Unsere musische Erziehung und Bildung lag ihm offensichtlich sehr am Herzen. Dabei spielte der Unterricht im Fach Musik eine besondere Rolle, ohne dass der Unterricht in den anderen Fächern Abstriche erfuhr. Wir lernten eine Vielzahl von Volks- und Kunstliedern kennen und erhielten eine gründliche Einführung in die Musiktheorie. Höhepunkte waren für uns die Besuche der Opernaufführungen im Deutschen Nationaltheater in Weimar mit Webers “Freischütz” (1938) und im Leipziger Opernhaus mit Wagners “Lohengrien” (1939). In Erinnerung ist geblieben, dass Herr Dr. Reble sie sorgfältig mit uns vorbereitete. Der von Herrn Dr. Reble geleitete Schulchor verfügte über ein umfangreiches Repertoire und war stimmlich gut ausgebildet. Seine Auftritte bei Elternabenden und anderen schulischen Veranstaltungen bildeten die Höhepunkte. Übte Herr Dr. Reble neue Melodien oder Tonfolgen mit uns ein, bediente er sich statt des Liedtextes des Silbenpaares “mo-mo”. So kam er zu seinem Spitznamen “Momo”, und den hat er über alle Jahre hin behalten. Soweit die Vorbemerkungen. Nun zur Geschichte des Tage-/Fahrtenbuches.
Wie ist es entstanden? Mit dem Ende des Schuljahres 1937/38 verließ eine Anzahl unserer Mitschüler nach Erfüllung der gesetzlichen Schulpflicht die Schule, um einen Beruf zu erlernen. (Die in der Schule verbleibenden Schüler beendeten diese mit Abschluss der 10. Klasse und mit dem Zeugnis der Mittleren Reife am Ende des Schuljahres 1939/40.) In vier Jahren gemeinsamer Schulzeit und beim gemeinsamen Lernen hatte sich eine stabile Schulklasse gebildet. Unter den Schülern hatten sich Freundschaften gebildet, hatten wir Partner mit gleichen Interessen, mit denen wir unsere Freizeit verbrachten, gefunden. Nun aber stand diese Gemeinschaft vor ihrer Auflösung. Ehe es dazu kam, wollte Herr Dr. Reble uns noch einmal zusammenführen, uns noch einmal das Miteinander, das Kameradschaftliche erleben lassen. Sein Vorschlag war es, eine mehrtägige Klassenfahrt zu unternehmen. Dem stimmten wir natürlich sofort zu. Unser Klassenlehrer hatte alles sorgfältig geplant und organisiert und ein anspruchsvolles Programm vorbereitet. Ohne ihn hätte es das Erlebnis “Gräfenthal” nicht gegeben, und wir wären um unvergessliche Erinnerungen ärmer gewesen. Nun vermag ich mich nicht mehr zu erinnern, wer die Anregung gegeben hat, über die Klassenfahrt eine Art Tagebuch zu führen.

Ich weiß auch nicht mehr, ob es eine Aufgabenstellung für alle Schüler gegeben hat oder ob sich, besonders interessierte Schüler für die einzelnen Berichte engagierten. Schließlich aber ist das Tage -/Fahrtenbuch als ein Gemeinschaftswerk zu sehen, das von allen Schülern unterstützt und anerkannt wurde. Ich möchte nicht mich zu jedem Tagesbericht äußern, vielmehr liegt es mir daran, aus der Sicht von heute das Besondere dieser Fahrt zu betrachten. Wir waren frei von allen Zwängen, achteten aber auf Disziplin. Wir marschierten nicht in Bein’ und Glied, sondern wanderten in loser Ordnung, mal gemeinsam mit dem Freund oder in einer Gruppe der Mitschüler. Es blieb uns Zeit, die Schönheiten der Natur und Landschaft links und rechts des Wanderweges zu sehen, zu entdecken und in uns zu bewahren. Wir besuchten Betriebe mit unterschiedlichen Produktionen, wie dergleichen nicht in unserer Naumburger Heimat angesiedelt waren, z.B. die Drahtweberei und die Porzellanfabrik in Gräfenthal, die Glashütte und die Glasbläser in Lauscha oder den größten Schieferbruch Thüringens in Lehesten. Das Programm, von unserem “Momo” sorgfältig erarbeitet, sah für jeden von uns und für die Gruppe etwas vor. Und: Bei allen Unternehmungen brachte sich unser Klassenlehrer selbst mit ein. Das gefiel uns besonders.

Diese Klassenfahrt hatte bei uns große Resonanz, so dass wir bald nach unserer Heimkehr an eine Wiederholung dachten. Ins Gespräch kam eine Radwanderung entlang des Mains im Jahr 1939. Das Frankenlied “Wohlan die Luft geht frisch und rein” hatte “Momo” bereits in den Unterrichtsstoff aufgenommen. 1939 sah alles ganz anders aus. Der Krieg warf seine Schatten voraus. Herr Dr. Reble war einberufen worden. (Stellvertretend hatte Herr Friedrich Schulz die Aufgaben des Klassenlehrers übernommen, Herr Schulz war eine Lehrerpersönlichkeit, welche wir gleichfalls achteten und schätzten.) Unser Schulgebäude sollte ein Reservelazarett aufnehmen, und wir mußten bei der Räumung mit Hand anlegen. Fortan waren wir in anderen Naumburger Schulen, z.B. im Domgymnasium, Gäste. Im März 1940 wurden wir aus der Mittelschule entlassen. Am Tage der Entlassung kam Herr Dr. Reble zu uns. Er war auf Urlaub und hielt sich bei seinen Schülern auf. Dann gingen wir auseinander. Einige erhielten ihre Berufsausbildung außerhalb von Naumburg, andere hatten Lehrstellen in der Heimatstadt gefunden. Gelegentlich sah man sich; dann verlangte auch der Krieg nach uns, und man verlor sich aus den Augen. An das Tage-/Fahrten-buch hat damals gewiss niemand gedacht.

Erst 52 Jahre nach unserer Schulentlassung erfahren wir, daß es noch existiert. Unser ehemaliger Klassenlehrer hat es über alle Jahre hindurch aufbewahrt, auch als er 1949 mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern nach Westdeutschland ging, fand diese Kladde Platz in dem zwangsläufig geringen Handgepäck. Sieben seiner ehemaligen Schüler aus der Klasse, die Herr Prof. Dr. Reble als seine “unvergessliche Klasse an der Naumburger Mittelschule” bezeichnet hatte, waren 1994 seine Begleiter bei einem Abstecher nach Gräfenthal im Rahmen eines Klassentreffens. Damit haben wir ihm und uns einen großen Wunsch erfüllt. Herr Prof. Dr. Reble verstarb im Jahr 2000 im Alter von 90 Jahren. Er war uns ein guter Lehrer und Freund.- Seit seinem Tod bewahrt und behütet seine von uns sehr geschätzte Gattin unsere Erinnerungen an Gräfenthal. Bei ihr sind sie in guten Händen.