Schwester von Großvater, zog mich an und band mir ein rotes Band in meine schwarzen Haare. Dann trug sie mich nach nebenan zur Geburtstagsfeier, die nun eine doppelte war. Man reichte mich von Arm zu Arm und fragte: “Wie soll das Kindlein heißen?” Bei Marie krähte ich und so war es beschlossene Sache, das Kind heißt Marie, wie seine Großmutter. Sicher war das keine Fehlentscheidung, denn später stellten ich und andere fest, dass ich auch viel vom Wesen meiner Großmutter geerbt hatte.
Als ich 3 Monate alt war, hatte ich eine schwere Bronchitis. Die Hebamme riet meiner Mutter mich heiß zu baden, kurz hochzuheben und mir kaltes Wasser auf die Brust zu gießen. Ich schrie los und der Schleim löste sich. Daher kommt sicher meine Angst vor Wasser, besonders vor kaltem. Bei schönem Wetter stellte man mich im Kinderwagen auf den Hof, um mich herum die Hühner, das soll mir gefallen haben. Passte wohl auch zu mir, denn nach den chinesischen Sternzeichen bin ich im Jahre des Hahnes als Huhn geboren. Das Huhn das goldne Eier legt und auch in der Wüste noch einen Wurm findet. Das war aber noch zu erhoffen.
Nachdem ich ½ Jahr alt war, mieteten meine beiden Großelternpaare für die junge Familie eine Dachgeschosswohnung in den Weinbergen. Später im Krieg wurde das Haus von einer Luftmine getroffen, aber da wohnten sie schon lange nicht mehr drin. Da mein Vater arbeitslos war, bezahlten die Großeltern die Miete. Die Eltern meiner Mutter kauften ihrer Tochter Küchenmöbel. Ein Küchenschrank, einen Aufwaschtisch, den muss man sich so vorstellen, eine ausziehbare Platte, vorn dran Tischbeine, in der Platte eingelassen zwie große Emailleschüsseln. Darin wurde der Abwasch gemacht. Dann ein Wasserbänkchen, wie eine kleine Kommode und oben drauf standen eine oder zwei Wassereimer. Dann noch zwei Stühle. Mein Vater bekam sein Bett, einen alten Kleiderschrank und ein Nachtschränkchen mit Federbetten von seinem Großvater, entsprechend alt und schwer. Das alles wurde auf den großen Handwagen geladen und so zog er damit über die Saalebrücke Richtung Weinberge, natürlich beobachtet von den Dorfbewohnern. Mitten auf der Saalebrücke ging die Tür des Nachtschränkchens auf und der Nachttopf kullerte heraus. Das Gelächter kann man sich vorstellen. Nachdem sie nun verheiratet waren, das war geschehen nachdem ich Halbzeit in meiner Mutter Bauch hatte, bekam mein Vater Arbeit bei der Bahn. Stoppkolonne hieß das damals und bedeutete mit der Spitzhacke den Schotter unter die Gleise zu stoppen (stopfen), dabei spritzten manchmal die Hinterlassenschaften der Fahrgäste hoch. Als gelernter Schriftsetzer war mein Vater diese Arbeit nicht gewohnt und hatte bald die Hände voller Blasen. Der Rottenführer Hirschfeld sagte reinspucken und weitermachen. Mit der Zeit wuchs eine Hornhaut an den Händen, auf seiner Seele wuchs sie nie.
Irgendwann bevor ich 3 Jahre alt wurde, zogen meine Eltern zu Schirners auf den Lindenberg. Dort wurde mein Bruder und später meine Schwester geboren. Der Winter muss sehr kalt gewesen sein und die Saale zugefroren. Später kam Hochwasser, das Eis zerbarst in große Schollen und türmte sich am Ufer auf. Tante Hannchen nahm mich an der Hand um mir die Schollen zu zeigen. Ich versuchte darauf zu klettern, aber sie waren so kalt und glatt und höher als ich und ich weiß noch, dass ich ein rotes Mäntelchen anhatte.
Später gab es noch richtig heiße Sonne, wir Kinder liefen barfuß, auf der Saalebrücke war der Teer so heiß und weich, dass unsre Zehen einsanken und wir meinten, es gibt Brandblasen. Das Gegenteil war der Winter, da war das eiserne Brückengelände eisekalt. Wir wollten am Eis lecken und die Zunge gefror an. Die Wege durch die Aue waren eine Erlebnis, in den Fahrrinnen stand oft das Wasser aus dem Frösche hüpften. Aus dem Gras sprangen Heupferde.
Mit auf dem Flur wohnten Onkel und Tante Peter, mit Anni und Karlchen, den großen Kindern. Karlchen hatte einen Fotoapparat und fotografierte mich. Wir mußten immer leise sein, 3 Kinder, da mußte man auch damals schon froh sein, wenn man eine Wohnung bekam.
Einmal standen wir vor dem Haus auf der Straße, da stand auch eine junge Frau. Else, wohl eine Tochter des Hauses. Sie hatte ein Kopftuch auf und wurde gefragt, wo sie gewesen sei. Sie sagte sie darf nicht darüber sprechen. Später erfuhr ich, sie hatte sich mit einem Fremdarbeiter eingelassen und war für eine Zeit im Lager, dort wurden den Frauen die Haare abgeschnitten.
Es war Krieg und mein Vater wurde eingezogen, so hieß das. Ich habe es wohl nicht so begriffen, aber als er das erste Mal aus Russland auf Urlaub kam, wollte ich ihn nicht mehr weglassen und nahm mir vor, ihn an der Kleiderhänge festzubinden. Früh war er dann weg. An meinem Vater habe ich sehr gehangen. Nach dem Polenfeldzug, der in Naumburg gefeiert wurde, fuhr man die Soldaten aus dem Flemminger Lazarett in Kutschen durch Naumburg. Ich wurde hochgehoben und gab einem Soldaten ein Wickensträußchen, sah seinen verbundenen Arm und da dämmerte es mir, dass Krieg etwas Schlimmes ist.
Als ich 6 Jahre war, zogen wir in den Kindergarten. Das heißt, wir hatten in dem Haus eine Küche, Wohnzimmer und eine dunkle Diele, im 2. Stock zwei Schlafzimmer. Ich wurde Ostern eingeschult. Ich brauchte einen Ranzen. Den brachte Tante Rese. Ihre Tochter Erika hatte ihn schon 8 Jahre zur Schule getragen, danach wurde er zur Einkaufstasche umgearbeitet und nun wieder zum Ranzen. Die fehlenden Tragriemen wurden aus einem Gürtel gemacht. Leder hält was aus, auf meinem Rücken wieder 8 Jahre und danach wurde er wieder nach Almrich vererbt und getragen. In die Almricher Schule bin ich gern gegangen. Der Lehrer Örtel war streng, sein Geigenspiel tat weh. An der Rückwand der Klasse standen große Regale auf denen wurden Seidenraupen mit Maulbeerblättern gefüttert. Die hatte man neben die Treppe gepflanzt, die von der Hauptstraße zur Flemminger Straße führte. Mittlerweile war Krieg und aus den Kokons der Raupen, wurde Seide gemacht für Fallschirme. Die Schule in Almrich im Unterdorf hatte 2 Klassen für 4 Jahrgänge. Der Lehrer Herr Örtel hatte schon meine Eltern unterrichtet (oder war es Rodrian). Er war streng, es gab Strafen, in der Ecke stehen, mit dem Schlüsselbund auf die Finger hauen, das traf auch mal mich, mit dem Rohrstock auf den Hosenboden der Jungen. Der Lehrer spielte auch auf der Geige, mit dem Erfolg, dass ich bis heute kein Geigenspiel mag. Unsere Handarbeitslehrerin war Frl. Bartolomäi, die hatte ich sehr gern. Sie lernte uns häkeln. Erst meterweise Luftmaschen, beim Spiel als Pferdeleine zu benutzen. Später nachdem wir feste Maschen und Stäbchen beherrschten, durften wir aus dünnem Garn Deckchen häkeln. Die Deckchen waren rund mit Muster. Ein Verwandter von Frl. Bartolomäi schnitt uns runde Glasscheiben. Die Deckchen waren etwas größer als die Scheiben. Durch den Rand wurde eine farbiges Band gezogen, die Glasscheibe auf das Deckchen gelegt, das Band festgezogen und eine Schleife gebunden. Das war dann ein Untersetzer für eine Kaffeekanne. Nach dem 4. Schuljahr ging ich nach Naumburg auf die Mittelschule. Da ging 1944 der Krieg dem voraussehbaren Ende entgegen, immer noch wurde der Sieg beschworen.
Für uns Kinder sah es so aus: Früh reinlaufen zur Schule, 1 Std. Unterricht, Voralarm, alle in den Keller. Wir Dorfkinder hatten in dem Keller Angst, alle hatten Angst und das Übertrug sich. Also rannten wir bei Voralarm los, Richtung Almrich. Spätestens bei der Schweinsbrücke gab es Vollalarm und da waren auch schon die Tiefflieger über uns. In die Keller der angrenzenden Häuser konnten wir nicht, sie waren verschlossen aus Angst vor feindlichen Fallschirmspringern.
Es kam vor, dass die Flak ein Flugzeug abschoss und der Pilot sich zu retten suchte. Das geschah einmal. Der Pilot wurde von einem Deutschen festgenommen und ins Spritzhaus gesperrt. Vorher schenkte er einem Mann seine Uhr. Später hörten wir, dass man den Mann erschossen hätte. Da nahm ich mir vor, wenn ich so einen Fallschirmspringer finde, würde ich ihn bei uns hinter der Bodenkammer verstecken, ihm was zu essen bringen und einen Anzug von meinem Vater. Der Fall trat zu unserem Glück nicht ein, man hätte uns umgebracht, es wär ja doch rausgekommen.
Während wir Kinder nun nach Hause rannten und die Tiefflieger über uns waren, sah ich einmal sogar den Piloten in seiner Kanzel, er hatte eine eng anliegende Ledermütze auf. Die Geschosse spritzten um uns herum auf das Pflaster, er mußte sehen, dass wir Kinder waren. Wir hatten einen Schutzengel. Ich wusste hinterher nicht mehr, wie ich den Hang runter und unter die Schweinsbrücke gekommen bin. Zuhause Schularbeiten gemacht, so gut es ging.
Nachts war dann wieder Alarm. Wir standen am Fenster und sahen in der Dunkelheit die Christbäume am Himmel, das war Leuchtmunition, sie galt zur Orientierung, wegen Leuna. Abends mußten wir unsere Kleidung so auf den stuhl legen, dass wir sie bei Alarm im Dunkeln anziehen konnten oder nehmen und damit in den Keller gehen. Einmal merkte meine Mutter, dass meine Schwester fehlte, sie war wieder ins Bett gekrochen und schlief weiter. Es war eine Zeit der ständigen angst und ganz nüchtern denkend, rechnete man damit das Leben zu verlieren. Es war eine Normalfall der keine Panik aufkommen ließ.
Mein Vater war das 4. Jahr in Russland, Estland, Lettland und Litauen. Er schickte manchmal ein Päckchen. Ölsardinen, eine von Russen gefertigtes Spielzeug, eine Platte mit einem Griff, darauf Hühner und ein Hahn, alles aus Holz und bunt bemalt. Die Hühner waren durch Fäden mit einem Klotz verbunden, der unter einer Platte hing. Wenn man den Klotz schwenkte, pickten oben die Hühner. Einmal schickte er Wolle, die hatte er gegen Zigaretten eingetauscht. Als meine Mutter die Wolle vom Knäuel wickelte, kamen lebende Läuse zum Vorschein. Die kostbare Wolle mußte verbrannt werden, die Läuse hätten Fleckfieber übertragen können. Einmal schickte er ein Schultertuch aus weißer Schafwolle mit einem wunderschönen Muster gestrickt. Wir mußten es auftrennen und es wurden Pullover daraus gestrickt, die waren nötiger. Beim letzten Urlaub erzählte mein Vater für mich Unbegreifliches. Er hatte Kontakt zur Bevölkerung, was einem deutschen Soldaten streng verboten war. Er lief und kam an eine tiefe frisch geschachtete Grube. Als er wieder in das Dorf kam, standen die Häuser leer. Er ging hinein, da lagen die Schulsachen der Kinder, ...., das Geschirr stand auf dem Tisch. Später erfuhr er, sie waren alle am Rande der Grube erschossen worden.
Mein Vater war Feldgrauer Eisenbahner, nicht bei der kämpfenden Truppe, er zog mit der Lokomotive, schlief im Lockschuppen. Es war Partisanengelände aber er ging mit der Bevölkerung aufs Feld zur Ernte und die Bauern sagten: “Fritz wenn du bei uns bist, passiert dir nichts und so war es auch. Meine Mutter mußte ihm Blumensamen ins Feld schicken und den schenkte er den Bäuerinnen. Später erzählte er vom russischen Sommer, hatte uns auch Wollgras im Brief geschickt, das kannten wir nicht. Ein Kamerad von ihm, der wohl nicht beliebt war, wurde in der Tür des Schuppens erschossen.
Wir in der Heimat lasen die Eier, Larven und Kartoffelkäfer vom Kartoffelfeld, barfuß eine Büchse in der Hand sammelten wir das Viehzeug ab, der Lehrer vernichtete es, wie weiß ich nicht. Sie hießen auch Coloradokäfer und der Amerikaner hätte sie abgeworfen. Um den Funkverkehr zu stören, wurde so genanntes Lametta abgeworfen. Das waren ganz schmale silberfarbene Streifen. Wir Kinder mußten sie aufsammeln und abgeben. Sie hingen auch unerlaubterweise an manchem Weihnachtsbaum. Auch die Flugblätter, die der Feind zu unserer Information abwarf, mußte wir sammeln und abgeben. Wir durften sie nicht lesen, was wir natürlich doch taten. Wir wollten keinen Krieg, wir wollten sein Ende und überleben. Tante Dorle, die mit der kleinen Bärbel als Flüchtlinge bei uns lebten, hatte im Kleiderschrank ein Radio versteckt. Dort hörten wir heimlich den Feindsender, der uns riet aufzugeben. Wir waren ja dazu bereit, hatten aber nichts zu sagen. Es war streng verboten, das zu hören, das war Wehrkraftzersetzung. Der Mann von Tante Dorle, Herbert, war auch im Krieg.
Dann kam das Frühjahr 1945. Auf der Landkarte wurde täglich mit Fähnchen abgesteckt, wo der Feind stand. Über den Rhein konnte er nicht kommen, er kam. Die vielbeschworene Waffe, die V1 oder V2 war ein Phantom. Unaufhaltsam kam er über Deutschland, uns war alles recht, nur ein Ende des Mordens.
Was mir in schrecklicher Erinnerung ist, ich stand stundenlang, tagelang am Fenster und sah in Fünferreihen Elendsgestalten Richtung Westen ziehen. Manche schleppten, schleiften einen Kameraden mit, mehr tot als lebendig. Es waren Kriegsgefangene, die man vor der Front zurück zog. Manche hatten eine durchlöcherte Blechbüchse mit Glut an zwei Drähten zwischen sich. Neben dem Tross liefen deutsche Soldaten als Bewacher, sicher sich dessen bewusst, dass sich das Blättchen wendet. Almricher Frauen kamen und brachten ein Stück Brot oder was sie noch Essbares hatten. Eine brachte einen alten hochrädrigen Kinderwagen, da legten sie einen Kameraden rein, der nicht mehr laufen konnte. Die deutschen Wachen sagten nichts, trotzdem es streng verboten war.
Noch schlimmer war der Elendszug von Männern in blau-weiß gestreifter Kleidung, scharf bewacht. Ich sah es vom Fenster aus. Die Bevölkerung hatte Angst, keiner traute sich hin. Es waren KZ-Häftlinge. Auf den Pfortenwiesen wurde einer erschossen, es war wohl der Gnadenschuss. Viele, viele Jahre später treffe ich eine Frau, die erzählte mir: Sie ist aus Ostpreußen noch rausgekommen, zu Fuß, hochschwanger. Unterwegs hat eine Hebamme schwangere Frauen um sich gesammelt, sie sind durch Almrich gezogen und auf der Pfortenwiese hat sie unter einem Baum ihr Kind bekommen, ein Mädchen, es lebt. Tod und Leben. Der Wahnsinn des Krieges mußte bald seinem Ende entgegen gehen. Ein Ende mit Schrecken, aber uns lieber als ein Schrecken ohne Ende. In unserem Garten bauten Soldaten unter dem Rosenbeet einen Unterstand, die Rosen pflanzten sie zur Tarnung wieder oben drauf. In Großmutters Waschküche lag die Munition. Großmutter wollte nochmal waschen. Sie trug die Handgranaten in den Hof und lehnte sie alle an die Hauswand. Sie wusch ihre Wäsche und hing sie im Hof auf. Als die Soldaten zurückkamen, sagten sie: “Mutter sie hätten das ganze Haus in die Luft sprengen können.” Im April mußten auch die Kartoffeln gelegt werden, von Hand in die Furchen. Zwei Pferde und der Wagen mit Setzkartoffeln standen auf dem Feld, die Frauen legten die Kartoffeln. Bei Fliegeralarm nahm der Bauer die Pferde und im Galopp ging’s in den Wald. Die Frauen suchten Schutz unter dem Wagen.
In den Weinbergen hatten sich die Hitlerjungen aus der Napola verschanzt, Kinder mit Waffen. Mein Großvater ging mit einem andern Mann hin und überredete sie heimzugehen, was auch glücklich gelang.
Wir packten unsre Sachen was wir tragen konnten und zogen in die Weinberge in den Keller in Hülsens Berg. Da waren auch einige Serben, Kriegsgefangene die im Dorf arbeiteten und im Krug schliefen. Bewacht von Rudi. Rudi hatte furchtbare Angst, dass ihn die Amerikaner erschießen würden. Aber die Gefangenen beruhigten ihn mit den Worten: “Wir schützen dich, du warst gut zu uns.” Vorsichtshalber zog Rudi seine Uniform aus, band Uniform und Gewehr zu einem Bündel und ließ es an einem Bindfaden in den Brunnen herab. Wir lagen acht Tage und Nächte auf Stroh voller Angst und Spannung, aber die Frau des Winzers lief immer wieder in das Winzerhaus rüber und kochte für alle Weinsuppe mit ein bisschen Mehl angedickt. Das machte uns angenehm schläfrig. Ihr Feuer im Ofen sollte möglichst keinen Rauch machen, in dem Glauben, die Flieger sehen das Haus nicht. Die Deutschen nahmen an, dass die Amis über die Saalebrücke kommen. Um das zu verhindern, wurde die schöne fünfzig Jahre alte Brücke gesprengt. Ein Wahnsinn, einer meiner Urgroßväter hatte sie mitgebaut. Wir hörten die Detonation und sahen die Trümmer hochfliegen. Aber die Amis kamen über Möllern, über die Höhe. Stunden zuvor war nach all dem Gedonner und Gedröhne eine Totenstille, unheimlich. Dann eine Stimme, zwei gegrätschte Beine in der Tür, der Ami war da, guckte in den Keller runter, stellte sich wieder oben hin, nach einer Weile war er weg. Wir blieben noch eine Zeit im Keller. Die Front war über uns weggerollt, uns war nichts geschehen, wir lebten. Die Welt stand noch, es war fast enttäuschend. Ich weiß nicht was die Großen machten. Wir Kinder wurden auf die Wiese geschickt und da sind wir wie die jungen Ziegen herum gesprungen. Ich sagte irgend etwas zu meiner Cousine und ihre Mutter gab mir daraufhin eine Ohrfeige. Ich nahm es ihr nicht übel, die Hauptsache der Krieg war für uns aus. Später erzählte Großvater, das erste war die Ziegen melken und die Kaninchen füttern. Dann kamen viele Lastwagen, waren wohl Versorgungsfahrzeuge, die hatten sich verfahren, mußten wenden, das ging nur auf Großvaters Wiese. Ein Neger brach dabei einen Pflaumenast ab, darauf ging er zu meinem Großvater und wollte den Ast bezahlen. Mein Großvater winkte nur ab.
Zur gleichen Zeit, als die Almricher Brücke gesprengt wurde, sollte auch die Kösener Brücke gesprengt werden. Man hatte die Zündschnur zur Brücke durch den Garten eines Anwohners gelegt. Der sehr beherzte Mann nahm seinen Spaten und durchtrennte die Schnur, so wurde die Brücke gesprengt. Außerdem war es so sinnlos die Brücken zu sprengen, die Saale war ganz flach.
Also der Krieg war für uns aus, die Buchen hatten zartes grünes Laub, die Vögel sangen, es war wie Auferstehung. Wir packten unsre Sachen. Ob das Haus noch steht, was werden wir vorfinden? Wie kommen wir über die Saale? Also liefen wir auf dem Damm bis zum Fischhaus, dort mit dem Kahn übergesetzt und auf dem anderen Damm nach Hause. Wir spürten die Freiheit, eine neues Leben, neues Beginnen. Das Haus, ich glaube alle Häuser standen noch. Wieder in der Wohnung holte meine Mutter das Hitler-Bild von der Wand. Damit hatte es seine Bewandtnis. Ursprünglich war es ein Hochzeitsgeschenk, das Bild Luthers. Später mußte Luther mit einem Hitler-Bild verdeckt werden. Nun das Hitler-Bild raus und Luther wieder rein. Dann verbrannte sie alles was mit Hitler zu tun hatte. Aus den Handarbeitsheften wurden die Seiten herausgerissen, die Schulbücher gefleddert. Die Fahne wurde aufgetrennt, der weiße Kreis und das schwarze Hakenkreuz vom roten Stoff. Man konnte nichts wegwerfen, man hatte ja nichts. Ein Kind von Eichstätts bekam eine rotes Kleid mit schwarz und weiß abgesetzt. Not lehrt beten. Die sorge galt jetzt den Männern die im Krieg waren, lebten sie noch? Meine Mutter oder Tante Dorle sagten: “Wenn doch wenigstens einer schon nach Hause käme.” Aber wie grausam wäre das für die Andere gewesen. Es grenzt an ein Wunder, beide Männer kamen, aus ganz verschiedenen Richtungen an einem Tag nach Hause. Wir waren bei den Großeltern in den Weinbergen. Meine Mutter stand oben auf der Leiter im Kirschbaum, da sah sie einen Mann auf dem Fahrrad über die Saalebrücke kommen, den sie aber nicht erkennen konnte und sagte: “Das ist Vati.” Er war es, stand unter dem Kirschbaum und meine Mutter war nicht fähig herunter zu steigen. Ich warf mich an meinen Vater, aber er schob mich weg. Im ersten Moment ein Schock aber dann begriff ich, er war voller Ungeziefer. Er war mit der letzten Lokomotive aus Russland gekommen. Viel später wurden auch unter seiner Regie die alten Dampfloks verschrottet. Undank ist der Welt Lohn. Er mußte sich registrieren lassen, bekam eine Lebensmittelkarte und wollte wieder arbeiten. Da er in der Partei war, als Beamter mußte er es, durfte er nicht mehr ins Büro sondern mußte Lokomotiven putzen. Die Loks wussten wohl schon, was er ihnen später antun würde und waren ihm feindlich gesinnt. Er hatte dauernd kaputte Hände.
In diesem Sommer 1945 taten wir was wir schon die letzten Jahre getan hatten, für etwas zu essen zu sorgen. Ich erinnere mich, Sommer 44, ich hatte solchen Hunger. Meine Mutter sagte, geh in den Garten, vielleicht ist eine Tomate reif, sie war noch halbgrün, aber ich aß sie. Es gab Brot mit Kaffee nass gemacht und Zucker drauf gestreut. Es gab Kartoffeln und im Sommer Gemüse aus dem Garten. Von Großmutter jeden Tag Ziegenmilch. Wenn ein Böckchen oder Kaninchen geschlachtet wurde, wurden wir zum Essen eingeladen oder bekamen ein Stück Fleisch. Einmal schickte die Großmutter aus der Pfortastraße die Keule einer kleinen Ziege durch meine Mutter zu Großmutter in den Weinbergen. Meine Mutter nahm ein Messer mit und unterwegs ging sie in den Graben und schnitt sich heimlich ein Stück ab. Ja, und dann war das Stoppeln, das hieß sammeln was auf den Feldern liegengeblieben war. Ich glaube die Bauern ernteten in dieser Zeit bewusst schlecht ab. Ähren lesen, Kartoffeln, auch halbe, auswühlen. Erbsen lesen, Erbse für Erbse. Schlimm war Zuckerrüben rausholen, die Erde war kalt, oft nass, das Wetter kalt und frostig. Einmal war durch Funkenflug der Eisenbahn ein Gerstenfeld in Brand geraten. Da durften wir uns die angekohlten Ähren holen, mußten aber die Hälfte davon abgeben. Wir waren alle schwarz wie die Mohren. Beim Erbsenlesen rutschten wir auf Knien übers Feld, jeder hatte einen Streifen in seiner Körperbreite. Am Feldrand, hoch zu Ross der Aufseher. Eine Frau holte sich Erbsen vom noch nicht abgeernteten Feld, da nahm er ihr das Säckchen weg und verstreute die Erbsen. Mit auf dem Feld war auch Großvaters Hund “Molli”, der blieb beim Tragkorb sitzen, am Rand des Feldes, knurrte jeden an der sich näherte. Im Tragkorb lag unser trocknes Brot und davon bekam Molli ein Stück ab. Die Gerste, alles Getreide, wurde selber gedroschen. Dazu wurde eine große Plane ausgelegt, darauf das Fahrrad gelegt. Einer drehte die Kurbel und der andere hielt die Ähren in das sich drehende Rad. Da flogen die Körner heraus. Dann wurden sie in einer flachen Schüssel geschwenkt und der Wind blies die Spelzen davon. Die getrockneten Körner kamen auf den Boden, Vorrat für den Winter und als wir sie dann holten, waren die Kornkäfer drin. Ich glaube die Körner wurden ins Wasser getan, die Käfer sollten rauskommen, aber sie waren teils noch hinter einem Deckelchen im Korn. Wir mußten sie essen. Die gestoppelten Kartoffeln mußte man verstecken, denn es kamen Kontrollen. Wer über eine bestimmte Menge hatte, mußte abgeben. Also packten wir die Kartoffeln auf den Spitzboden, bei einem plötzlichen Frosteinbruch sind sie angefroren, wir haben sie gegessen, Süßkartoffeln.
Wir hatten selbst nicht genug, aber es gab die Flüchtlinge die hatten noch weniger. Eine Flüchtlingsfrau kam einmal zu meiner Großmutter und sagte: “Haben sie nicht ein Tischchen für mich?” Großmutter holte ihr eins vom Boden, da stand das Tischchen nun im Hof und die Flüchtlingsfrau davor, stumm und ging nicht. Großmutter sagte: “Wollen sie noch was?” Ja, sagte sie, haben sie nicht ein Deckchen, Großmutter hatte. Als Großmutters Schwester tot war, blieb ihre Unterwäsche und Kleidung im Haus. Eines Tages kam die Dampen Jule, ein Flüchtling, Kommunistin, es hieß sie ist Hunde. Was wohl stimmte, Molli gebärdete sich wie wild, wenn sie kam. Großmutter gab ihr die erbetene Unterwäsche, Großvater war dagegen. Aber Großmutter gab ohne Ansehen der Person. Großmutter, 1883 geboren, war noch aus der Zeit wo es “Gnädige” gab und als Näherin nähte sie in Schulpforta für die feinen Leute. Die schenkten ihr oft abgelegte Kleider, Gardinen, Decken und Deckchen, die von den adligen Töchtern bestickt waren. Wunderschön aber schon unmodern, mir gefielen sie. Mir sind noch heute die Namen ein Begriff, einige liegen in Pforte auf dem Friedhof. Aus deren abgelegten Kleidungsstücken bekamen wir Kinder Kleidung. Im Krieg hatten auch die feinen Leute nichts zu essen, vielleicht weniger als die Landbevölkerung. Sie kamen zu meiner Großmutter und aßen mit am Tisch. So lernten wir Kinder erstklassige Manieren und auch schöne Lieder. In Schulpforta war die Frau P. Ihren Mann hatten die Amerikaner mitgenommen, das war sein Glück. Für diese Frau und deren Kinder flickte meine Großmutter. Frau p. ging mit ihren Kindern aufs Feld stoppeln, das jüngste eine Baby. Meine Großmutter sagte, aber lassen sie mich doch aufs Feld gehen, ich bin es gewöhnt und bleiben sie zu Hause. Frau P. sagte, ich habe flicken nicht gelernt, aber aufs Feld kann ich gehen. Später als die Russen da waren, mußte Frau P. aus ihrer Wohnung raus. In ihrem Keller lagerten die Russen ihre Vorräte. Zwei Jungen von ihr holten sich davon aus dem Keller. Einer zwängte sich von außen durch die Gitterstäbe, nahm was in die Hosentaschen ging, der andere lief vor dem Fenster auf und ab. War Gefahr im Verzug pfiff er: “Horch was kommt von draußen rein ...”, war die Luft rein ein anderes Lied. Von der Diebesbeute bekam meine Großmutter etwas ab. Später konnte Herr P. seine Familie nachholen. Mit ihrem Umzugsgut brachten sie uns eine große Kiste Eingemachtes mit, da waren wir auch schon im Westen.
Als die Russen einige Wochen nach den Amis einrückten, fing eine schlimme Zeit an. Ein guter Kollege verriet meinem Vater, dass er nach Russland sollte, da wäre er vielleicht nie wieder gekommen. Im Mai 46 fuhr er im Bremserhäuschen, angetan mit seiner Eisenbahneruniform und einer Aktentasche mit etwas zu essen über die Grenze nach dem Westen. Auf Fragen mußte ich sagen, mein Vater ist in Zwickau, ich wusste nicht wo das lag. Im Okt. 46 ging ich früh Milch holen, da guckte aus dem Bär (Gasthaus, abgerissen) Lotte heraus und sagte: “Kleene sag deiner Mutter morgen geht ein Lastwagen nach dem Westen.”Ich holte die Milch und vergaß alles. Erst am Mittag fiel es mir wieder ein und ich sagte es meiner Mutter. Ich erwartete eine Strafe, aber sie tat mir nichts. Das Mittagessen Kartoffelmus mit Tomatensoße blieb stehen. Meine Mutter lief zu ihren Eltern, was soll ich machen. “Geh und nimm die Kinder mit.” Dann zu ihren Schwiegereltern. “Geh und lass die Kinder hier.” Dann kam sie zurück, holte den alten Kinderwagen aus der Bodenkammer und gab mir Anweisungen, was ich hineintun sollte. Für jedes Kind 3 Hemden, 3 Leibchen, 3 Paar Strümpfe, 3 Schlüpfer den Nähkasten, Bügeleisen, kein Spielzeug. Es hieß wir fahren zum Vati. Meine Schwester fing an zu heulen, sie wollte ihren Teddy Schnurzel mitnehmen, meine Mutter erlaubte es. Da wollte ich auch meine Puppe Gretchen mitnehmen. Damit sie es nicht merkte, versteckte ich meine Puppe unter dem Nähkästchen. Als wir später den Kinderwagen auspackten, war Gretchens Kopf zerquetscht. Dafür fand sich im Nähkasten ein Puppensieb, Durchmesser wie ein Groschen. Das war unser erstes Kaffeesieb im Westen. Später packte meine Mutter noch 2 Federbetten auf den Kinderwagen, alles wurde fest zusammen geschnürt. In der Dunkelheit holte Großvater uns mit dem Handwagen ab, es durfte uns keiner sehen. Wir schliefen diese Nacht bei den Großeltern. Die Großmutter nähte in der Nacht längere Ärmel in unsere Wintermäntel, aus einem roten Fensterfries. Am Nachmittag war meine Mutter noch in der Tankstelle Ölsen gewesen, sich zu vergewissern, dass er uns mitnahm. Das Auto war ja von anderen Leuten bestellt und die hatten dann auch ihren ganzen Hausrat auf der Ladefläche. Am nächsten Morgen, früh 4 Uhr, fuhr der Großvater den Kinderwagen auf dem großen Handwagen zu Ölsen. Meine Mutter ging ins Büro und wollte was zahlen, er wollte nichts. Nun war es aber so, als die Amis unter den stehen gebliebenen Bogen der Saalebrücke ihre Kraftfahrzeuge stehen hatten und das Ersatzteillager, hatte Emil, Flüchtlingsjunge der im Kindergarten wohnte, einen Lastwagenschlauch gestohlen, der blieb liegen, als Illis weg mußten. Den hatte meine Mutter und ihn Herrn Ölsen gezeigt. Der war darüber höchst erfreut, der war ihm mehr wert als alles Geld. So wurde unsere Flucht mit Diebesgut bezahlt. Wir kletterten auf die Ladefläche der Kinderwagen wurde verstaut, alles schweigend, und ab ging es. Im Führerhaus sass eine evangelische Schwester neben dem Fahrer, sie hatte eine Urne mit der Asche eines Toten auf den Schoß. Das Auto fuhr mit Holzgas, das heißt in den Ofen, der hinten auf der Ladefläche stand, mußte in Abständen Holz nachgelegt werden. Wer daneben sass, hatte es warm in der schon kalten Nacht. Wir kamen ins Sperrgebiet. Ein großes Hoftor tat sich auf, das Auto fuhr rein, das Tor ging wieder zu. Jetzt war es Tag. Die Leute mit den Möbeln gingen ohne uns los. Der Bauer erklärte uns den Weg. Lotte und die Schwester gingen mit uns. An einem Waldrand, vom Gebüsch halb verdeckt. Der Weg war von Rinnsalen durchzogen. Links im Feld eine großes Haus, da waren die Russen. Ob sie uns gesehen haben, weiß ich nicht, es soll grade Wachwechsel gewesen sein. Für alle Fälle hatte meine Mutter eine Flasche Kartoffelschnaps dabei, Selbstgebrannter. Von der Aufregung bekam meine Mutter ihr Asthma, sie zog den schweren Mantel aus und warf ihn auf den Kinderwagen. Da mußte ich den Wagen schieben, obendrauf sass meine jüngere Schwester. Nach einer Weile kamen wir an eine Straße und ein Mann sagte, sie sind im Westen. Ich merkte noch wie mir schwarz vor Augen wurde und ich in den Straßengraben kullerte. Als ich wieder zu mir kam, kroch ich die Böschung hoch. Ich hatte mich total überanstrengt. Ein Lastwagen kam, nahm uns gegen den Wiederstand des Beifahrers mit zum nächsten Bahnhof. Wir erwischten einen Zug Richtung Westen. Meine Kindheit war endgültig zu Ende. Die Heimat verloren.