Mein Vater, Werner Schröder, kurzzeitig Bürgermeister der Stadt Naumburg, war vier Wochen zuvor, am 20. August des gleichen Jahres bei den Kämpfen im Donetzbecken vor Stalingrad umgekommen. Meine Mutter, Charlotte Schröder geb. Utsch, stand nun allein mit mir und meinem zwei Jahre älteren Bruder Bernhard.
Trotz Krieg und Bombenangriffen, den Hungerjahren in der frühen Nachkriegszeit, hatte ich eine gute, meist unbeschwerte Kindheit. Das lag vor allem daran, dass unsere kleine Familie bei den Geschwistern Paßow in der Buchholzstraße Unterschlupf und Fürsorge erfuhren. Diese gebildeten und herzensguten Frauen waren schon meinem Vater in seiner Referendarzeit freundschaftlich verbunden gewesen. Und so übernahmen sie, ohne viel zu fragen, die Fürsorge für uns drei.
Die Schwestern, unser Elternersatz, stammten aus einer Pastorenfamilie aus Hohenfinow in Brandenburg. Schon in der zweiten Lebenshälfte, waren sie im heutigen Sinne emanzipiert. Im ersten Weltkrieg hatten drei der vier Geschwister ihre Liebsten verloren, so mussten sie ein Leben lang für sich selbst sorgen.
Ich nannte sie alle Tante und fühlte mich so, als ob es meine wirklichen Verwandten waren. Tante Elfriede war Oberschwester in der Klinik Schiele, die beiden Anderen, Erika und Maria, genannt Petzi, arbeiteten als Lehrerinnen bzw. als Katechetinnen. Meine wirkliche Ersatzmutter aber war Tante Dotty. Sie war umfassend gebildet, leitete den großen Haushalt, machte die Abrechnungen, baute Gemüse im Garten an, weckte Obst ein, kochte Zuckerrüben zu Sirup, backte wenn es Mehl gab und tat vieles mehr. Niemals danach habe ich einen solchen Menschen getroffen. Sie war in jeder Hinsicht außergewöhnlich, war bekennende Christin, teilte alles mit Jedem, war langmütig und humorvoll.
Bei ihr lernte ich spielerisch und nebenbei klassische Literatur und Malerei kennen. Meine fehlenden Bilderbücher ersetzte sie mir beispielsweise durch illustrierte Klassiker wie Shakespeares Macbeth und Hamlet, oder Goethes und Schillers gesammelte Werke. Auch die Geschichte Preußens mit Bildern von Adolph Menzel gehörte dazu. Wie oft habe ich mir Gemälde von Botticelli, Dürer, Cranach angesehen, habe mich in andere Welten geträumt und mich vor düsteren Mächten gegruselt.
Meine ersten Erinnerungen aber sind nur Bilder und Geräusche. Erschreckende Szenen, die mich für einige Jahre meiner Kindheit in meinem Alltag bis in meine Träume verfolgten. Es waren die Sirenen vor den Angriffen, die heulend meine sonst heile Kinderwelt erschütterten. Das Rennen in den Keller, die Angst der Erwachsenen, das Klappern der Türen, die kreischenden Flugzeuge, das Fallen der Bomben und der Luftdruck, der Fensterscheiben zertrümmerte, Bäume knickte oder sie auf den Boden bog.
Ich sehe noch meinen kleinen Bruder an der offenen Kellertüre stehen und neugierig ohne Angst das Inferno beobachten. Meine entsetzte Mutter, die ihn von dort fort zieht und die Türe zuschlägt. Im Dunkel des Kellers hockten die Bewohner. Die Frauen reichten Mullwindeln herum, die in einer Zinkbadewanne in Wasser getaucht wurden. Später erfuhr ich, dass sie als Vorsichtsmaßnahme gegen Brandbomben gedacht waren. Noch einige Jahre nach Kriegsende dachte ich, wenn es Gewitter gab, dass wieder Bomben fielen und wollte in den Keller rennen.
Nach 1945 hatte sich das Haus mit Flüchtlingen und Ausgebombten gefüllt. Unter ihnen eine Freundin meiner Mutter mit drei Kindern und deren Schwester mit zwei Sprösslingen in unserem Alter, sowie meine Patentante Ilse Wenzel mit ihren fünf Kindern. Sie hatte in der Nähe der Wenzelskirche einen Strickwarenladen betrieben. Ihr Mann war in russischer Kriegsgefangenschaft, ihr Haus nur noch eine Ruine, die uns als Abenteuerspielplatz diente. Die lose hängende Treppe im Inneren des Trümmerhaufens galt mir und meinem Bruder als Mutprobe, bis das Gebäude abgerissen wurde. In der Buchholzstraße gab es nun so viele Kinder unterschiedlichsten Alters, dass die Frage nach einem Kindergarten sich für uns und niemals stellte.
Das Haus in der Buchholzstraße hatte einen kleinen Garten mit Obstbäumen, einer alten rostigen Gartenlaube, einigen Beten, auf denen Gemüse und Salat wuchs. In direkter Nachbarschaft lagen Gewächshäuser und weitläufige Felder der Gärtnerei Biermann. Daneben begann hinter einer hohen Mauer das Gefängnis. Manchmal konnte ich ein Gesicht hinter den engen vergitterten Fenstern erkennen. Als die Sieger - Amerikaner und später Russen - das Gefängnis mit anderen Sündern füllten, stand so manch Angehöriger vor unserer Tür, um den Freunden, Verwandten oder Männern zu winken. Da es überwiegend Frauen waren, nannten wir Kinder sie die “Winkefrauen”. Bis dieses Treiben von der Militärpolizei unter Androhung von Strafe unterbunden wurde.
Da die Männer und Väter fehlten, waren wir eine reine Frauen- und Kindergesellschaft. Unsere Mütter waren erfinderisch und stark. Aus alten Vorhängen wurden Mäntel für uns genäht, Schuhe selber gemacht. Wenn wir zu große Füße bekamen, schnitten wir einfach ein Loch vorne hinein, so dass die Zehen Platz fanden. Noch heute denke ich mit großer Bewunderung an ihre Kraft, ihren Humor und ihre Solidarität. Unsere Mütter sassen in großer Runde bis spät in die Nacht, obwohl sie am nächsten Tag alle arbeiten mussten. Sie strickten, nähten, stickten, dabei erzählten sie sich Geschichten oder Witze und lachten. “Soldatenfrauen” nannten wir sie, ohne darüber nachzudenken.
Die Ernährungslage war katastrophal. Meine Mutter fuhr aufs Land und verkaufte den Bauern Schmuck und andere wertvolle Dinge, um etwas zu Essen zu besorgen. Eines Tages erschien sie abends, wie so oft, mit ihrem Fahrrad, aber aufgelöst und voller Angst. Auf dem Gepäckträger eingeklemmt ein toter Hase. Sie hatte gesehen wie ein russischer Soldat den Hasen schoss und dann suchte und suchte. Das Tier lag ganz in ihrer Nähe. Meine Mutter riss es geistesgegenwärtig an sich und floh auf dem Fahrrad mit der Beute. Fleisch war für mich das Beste überhaupt. Ich stellte mir immer vor, dass das Paradies eine Mischung aus Gottesdienst und Schlaraffenland war. Alles Essbare wurde angebaut, Kaninchen gehalten, altes Brot aufgehoben, Kartoffelschalen zu Mehl verarbeitet. Arme Ritter gab es häufig, oder eine Suppe aus altem Brot. Beides habe ich gehasst. Auch das Schlachten der Kaninchen hat mich bis ins Erwachsenenalter verfolgt. Schokolade war unbekannt, bis es später durch Pakete aus dem Westen zu Weihnachten zusammen mit Orangen auf unserem Gabentisch landete. In den ersten Hungerjahren retteten uns Care-Pakete amerikanischer Quäker. In der Schule gab es zu Anfang eine Schulspeisung, die aus leicht süßlichen rosa Brötchen bestand. Mehl, zusammen mit Hefe und Marmelade, ergaben dieses seltsame Gebäck. Später, nach Beginn des kalten Krieges, waren Pakete aus dem Westen ein Privileg, das viele meiner Freunde nicht hatten.
Der Garten war Spielplatz, wurde umgegraben, untergraben, wir bauten endlose Stollensysteme. Mein Bruder entdeckte früh seine Leidenschaft für Waffen aller Art. Er und seine Freunde holten sie sich aus der Saale, oder aus dem notdürftig abgesperrten Gelände, des ehemaligen Heereszeugamtes. Diese Vorliebe entpuppte sich sowohl in der alten DDR, wie auch in Westdeutschland als verbotenes und gefährliches Hobby. Der allgemeine Militarismus des alten Regimes war überall gegenwärtig. Da es wenig ziviles Spielzeug gab, bedienten sich viele Jungen im Alter meines Bruders auf den Schrotthalden des Krieges. Aus Gewehrpatronen klopften sie das Pulver heraus, um damit Feuerwerke zu veranstalten. Manchmal wurde es in Töpfen und Bratpfannen getrocknet, was der Großmutter eines Klassenkameraden meines Bruders schlecht bekam. Ihr flog das Rührei, was sie zubereiten wollte, geradewegs um die Ohren. Die Briketts, die Tante Dotty in aller Frühe in den Kachelofen schob, um es uns schön warm zu machen, explodierten mitsamt dem unteren Teil des Ofens. Es war ein Wunder, dass sie sich nicht verletzte und nur über und über mit Ruß verschmiert aus dem Zimmer taumelte.
Die Phantasie meines Bruders trieb ihn zu erstaunlichen Leistungen. So baute er eine Pistole aus dem Rohr einer alten Leitung, und einem Holzstück als Griff. Wie er die Waffe wirklich konstruiert hatte, war später nicht mehr festzustellen. Natürlich musste ich die Pistole ausprobieren. Ahnungslos wie ich war, habe ich den Auslöser auch brav betätigt. Es gab einen ziemlichen Knall, die Waffe flog mir aus den Händen und zerbrach in viele Einzelteile. Das Geschoss durchdrang zwei Türen und flog den Damen Paßow, die auf der Veranda Tee tranken, um die Ohren. Ich heulte, mein Bruder war begeistert und die Damen schockiert.
Es waren nicht diese Art von Spielen, die ich mochte. Ich liebte es auf meinem alten Apfelbaum die Welt von oben zu betrachten und zu träumen. Oder ich hing mit dem Kopf nach unten an der alten rostigen Gartenlaube und bildete mir ein, ich sei eine Zirkusartistin. Kein Zaun war mir zu hoch, meine Kleider immer zerrissen. Jeden Nachmittag ertönte aus Nachbars Garten das hohe Stimmchen meiner damaligen Busenfreundin Heidi: “Kommste bei mich?” Wir spielten mit allem was der Garten zu bieten hatte. Wir vergruben Schätze und schickten Geheimbriefe an Unbekannt. Im Haus auf der anderen Seite wohnte die Familie Schorr. Ebenfalls eine allein erziehende Mutter mit drei Kindern. In ihrem Garten stand ein herrlicher Glaskirschenbaum, argwöhnisch gehütet von der Großmutter Frau v. Egidy, aber regelmäßig zur Kirschenzeit von uns geplündert. Die Wohnung von Frau v. Egidy, genannt “Oma Didi” unter dem Dach war für mich die Märchenwelt schlechthin. Die alte Dame legte regelmäßig Patiencen, hatte allerlei historische Gewänder in den Schubladen, alte Bilder, Bücher und Fotografien, von denen sie viele Anekdoten zu erzählen wusste. Sie stattete uns Kinder einmal zum Fasching mit Biedermeierkleidchen aus und nannte das Fest “eine kleine Nachtmusik”. Zu ihrer großen Freude, mussten wir singen, musizieren und tanzen.
Eine kleine Nachtmusik - Kinderfastnacht 1952
Auf Entdeckungsreise in die Welt außerhalb unserer Gartenidylle, machten wir Radtouren zum Tälchen und der kleinen Saale (Almrich). Am Ende der Buchholzstraße lag ein Villenviertel eingebettet in den weitläufigen Hirschpark. Dort hatte die russische Armee Quartier bezogen und das Areal durch Bretterzäune abgetrennt. Nun lebten in den hübschen Villen russische Offiziere mit ihren Familien. In Schneereichen Wintern rodelten wir im Park bis es dunkel wurde und manchmal fuhren russische Soldaten in unseren langen an einander gebunden Schlittenketten mit uns die eisigen Wege hinunter. Zu unserem großen Spaß und zur Sorge unserer Mütter. Für dieses seltene Vergnügen riskierte ich regelmäßig Strafen. Ich kam immer zu spät, bis meine Mutter resignierte und mir Hausarrest gab.
Wie das Essen, war die Gesundheit ein seltenes Gut. Blaseninfektionen, Lungenentzündungen, Mumps, Windpocken, Scharlach, Diphtherie, Keuchhusten machten uns und unseren Müttern zu schaffen. Meine Mutter arbeitete zunächst in einem Behelfskrankenhaus als Schwester, das vorübergehend in einer Schule eingerichtet wurde. Dort lagen viele Flüchtlinge und Vertriebene mit TBC und anderen ernsten Erkrankungen. Viele von ihnen starben an den Folgen der Infektionen oder Unterernährung. Wir Kinder vermochten uns dem nicht ganz zu entziehen. Auch wenn wir die Tragweite dieser schlimmen Ereignisse nicht wirklich begriffen.
An einem Weihnachten kurz nach dem Krieg sollten wir Kleinsten, in weiße Laken gehüllt und mit Engelsflügeln ausgestattet, für die Kranken Weihnachtslieder singen. Ich erinnere mich noch lebhaft an den Moment, als wir die weiß glitzernden Flügel umgehängt und ein brennende Kerze in die Hand bekamen. Ich wollte immer ein Engel bleiben, doch die Wirklichkeit hat mich schnell eingeholt. Meine Mutter infizierte sich mit Typhus, mein Bruder erkrankte an TBC und Scharlach. Nur ich war noch gesund und hüpfte zwischen all den Kranken fröhlich herum. Die Wohnung wurde desinfiziert mit einem schrecklich riechenden Zeug, das überall in jede Ritze, jedes Kleidungsstück und in alle Möbel gesprüht wurde. Das Haus stand unter Quarantäne und ich durfte nicht zur Schule.
Mit fünf Jahren, 1947, war ich eingeschult worden. In jene Schule, die vorher als Krankenhaus gedient und in der meine Mutter als Schwester gearbeitet hatte. Ich bekam eine große Zuckertüte. Ich war sehr stolz darauf. Die Klasse war riesig, wohl über dreißig Kinder. Alle meine neuen Schulkameraden in dieser ersten Klasse hatten keinen Vater mehr. Entweder waren sie vermisst, oder gefallen, oder in Gefangenschaft geraten. Niemand wusste das so genau. Den überwiegenden Teil meiner Schulzeit verbrachte ich in der Salztorschule. Kohleferien im Winter, wenn es zu kalt war die Schule zu heizen. Barfuß im Sommer und Hitzefrei, was aber selten vorkam.
In dieser Zeit fing meine Mutter in der Klinik Schiele als medizinisch technische Assistentin (MTA) im Labor an zu arbeiten. Die Klinik Schiele blieb die einzige Privatklinik der DDR. Schichtdienste, Wochenenddienste, ich habe meine Mutter damals selten zu Gesicht bekommen. Um so intensiver waren die wenigen freien Tage, die wir miteinander verbracht haben. Ausflüge zu Saale und Unstrut, nach Bad Kösen oder in den Harz zum Kyffhäuser sind unvergessen.
Meine Mutter, auch die meisten der Paßows, waren überzeugte Christen in einer engagierten Gemeinde in St. Othmar. Erst mit etwa vier Jahren wurde ich getauft und so erinnere mich an dieses Ereignis. Ich trug ein hellblaues Kleid, an dessen seidigen Stoff ich mich heute noch erinnere. Auch an die Weihnachtsmetten und Andachten und die Flirts von Empore zu Empore mit den Junges auf der anderen Kirchenseite. Oder die eisig kalten Gottesdienste am Ostersonntag unter freiem Himmel auf dem Friedhof, wenn Pastor Böhm im schwarzen schlichten Talar beim Aufgehen der Sonne seine Hände erhob: “Hölle, wo ist Dein Stachel, Tod, wo ist dein Sieg...” In diesem Moment habe ich verstanden was mit der Auferstehung gemeint war. Später dann, als Teenager mit meinen Zweifeln am Sinn des Glaubens, hat mich der Pastor bei der Stange gehalten. Pastor Böhm, ist mir unvergesslich mit seiner ruhigen, bestimmten, sehr aufgeschlossenen Art.
Wir wurden älter, die Probleme nahmen zu. Politik spielte immer eine Rolle. Ich war begeisterte junge Pionierin, was meine Mutter mit Skepsis beobachtete. Spöttisch hob sie den Zipfel meines blauen Halstuches hoch: “Bei uns war das schwarz, heute ist es blau, dämmert‘s dir?" Bei einem Ausflug mit seinen Freunden fand mein Bruder einen Packen Flugblätter. In einer Nacht und Nebelaktion vom CIA abgeworfen. Er war vierzehn Jahre alt. Die Volkspolizei holte ihn abends zum Verhör. Er blieb die ganze Nacht in Gewahrsam. Beim morgendlichen Fahnenappell musste ich vortreten. Ich wurde vor allen Schülern und Lehrern gerügt, weil mein Bruder eine schändliche Dummheit begangen hatte. Erst einen Tag danach kam er wieder frei. Meine Mutter schrieb einen Beschwerdebrief an Wilhelm Pieck und erhielt eine kurze abschlägige Antwort.
Von jetzt an drangsalierte man sie, verweigerte man mir und meinem Bruder die Oberschule. Wir standen unter Beobachtung. Und jede pubertäre Dummheit, jeder Streich wurde doppelt gewogen. Es kam zur Anklage gegen meinen Bruder und gegen meine Mutter. Beide reisten nach Brandenburg ab. Es vergingen Wochen, ohne dass ich etwas von ihnen hörte. Ich ging wie immer zur Schule, bis eines Tages meine leibliche Tante aus Weißenfels abends in der Buchholzstraße auftauchte. Nur das Nötigste durfte ich mitnehmen. Ich nahm Abschied von meinen geliebten Paßows, von Tante Dotty. Es war mir nicht bewusst, dass es für eine lange Zeit sein würde. Früh am Morgen brachte mich meine Tante zum Bahnhof und wir fuhren nach Berlin, stiegen in die S-Bahn und kamen über die Friedrichstraße nach Westberlin. Das war im Frühjahr 1957. Einige Stunden später stand ich meiner Mutter und meinem Bruder im Flüchtlingslager Berlin Marienfelde gegenüber. Meine Kindheit war beendet.