Aber so richtig konnten wir das an diesem Morgen gar nicht wahrnehmen, denn wir waren todmüde und schließlich heilfroh, uns nach der Quartierseinweisung endlich aufs Ohr hauen zu können, ohne daran denken zu müssen, was der nächste Tag an neuen Überraschungen für uns bereithalten sollte.

Was der dann brachte, konnte uns kaum noch erschüttern: Wieder kein Bleiben! Nach den Stationen Reisen im Wartheland und Neuzelle bei Guben sollte es von Potsdam aus weitergehen. Aber wohin? Hier sei es zu gefährlich wegen möglicher Luftangriffe, hieß es. Wie wahr, noch kurz vor Kriegsende sollte die berühmte Preußen-Metropole mit ihren historischen Bauten durch ein gewaltiges alliiertes Bombardement nahezu dem Erdboden gleichgemacht werden.

Die NPEA [Nationalpolitische Erziehungsanstalten] Potsdam befand sich praktisch schon im Januar im Kriegszustand. Die älteren Jahrgänge wurden für den bevorstehenden Fronteinsatz ausgebildet, die jüngeren schob man ab. Diesmal in Richtung Südwesten, wieder in einem Eisenbahnzug. Unser nächstes Ziel: Naumburg an der Saale, wo sich eine weitere Napola befinden sollte.

"Wie lange soll das denn noch so weiter gehen", stöhnte der kleine Lohmann, der wie viele andere unruhig zu werden begann und sich ernsthaft um seine Familie sorgte, die sich ebenfalls auf der Flucht befinden musste.

"Laß man Hansi", tröstete ich ihn. "Um unsere Leute kümmert man sich schon. Wenn die Front näher rückt, wird die Zivilbevölkerung als erstes in Sicherheit gebracht." Doch wohin wird es sie verschlagen, fragten wir uns. Werden wir unsere Angehörigen je wiederfinden? Ebenso wie in meiner Heimatstadt Glogau hatte auch in anderen niederschlesischen Orten Ende Januar, wie ich später erfuhr, die große Evakuierungswelle eingesetzt.

"Hast du denn keine Verwandten in dieser Gegend hier?" fragte ich Hansi. "Jeder zweite Berliner soll doch aus Breslau sein."

"Mach keinen Quatsch, Hannes! Aber wenn ich so überlege, erinnere ich mich an eine Tante in Leipzig. Doch die soll ausgebombt und – ich glaube – bei Nachbarn untergekommen sein."

"Immerhin eine mögliche Anlaufadresse, wo sich deine Familie melden könnte", stimmte ich ihn zuversichtlicher und erzählte ihm, was meine Mutter mit mir ausgemacht hatte. "Mensch, Hansi, Leipzig und Borna sind doch nur einen Katzensprung von Naumburg."

Unser Zug kam auch diesmal nur langsam voran, nachdem wir am frühen Morgen den Potsdamer Stadtbahnhof verlassen hatten. Erst gegen Mittag passierten wir Halle, sahen dann die schwer zerstörten Leuna-Werke bei Merseburg und fuhren weiter die Saale entlang unserem dritten und hoffentlich letzten Zufluchtsort entgegen. Aller guten Dinge sind drei, war man versucht zu sagen. Wohin hätten wir denn sonst noch verlegt werden können? Weiter westwärts oder ganz in den Süden, auf den Obersalzberg, die Alpenfestung des Führers?

Vor Weißenfels standen wir über eine Stunde auf freier Strecke. Von Luftangriffen keine Spur. Wurde die Strecke ausgebessert, oder mussten wir kriegswichtige Transporte abwarten?

Als es endlich weiterging und wir langsam in den Weißenfelser Bahnhofeinfuhren, bot sich uns ein erschreckendes Bild: Keine Zerstörung, sondern auf einem Abstellgleis verstörte, ausgemergelte Gestalten in zerlumpter, gestreifter Kleidung, in offene Viehwaggons gepreßt und von SS-Mannschaften bewacht.

Zuchthäusler, durchzuckte es mich. Wie die anderen starrte auch ich durch das beschlagene Abteilfenster auf die gespenstische Szenerie. "Volksfeinde", wollte es Mertens wieder einmal besser wissen. "KZ’ler sind das. Mit denen wird kurzer Prozess gemacht, meint mein Alter."

Und so erfuhr ich zum erstenmal, dass es neben Gefängnissen und Zuchthäusern noch etwas Schlimmeres im Deutschen Reiche gab: Konzentrationslager. Aber was sollte man sich darunter vorstellen? Natürlich musste das Reich vor Volksfeinden und Saboteuren geschützt werden. Doch reichten dazu nicht die Haftanstalten aus?

Zugführer Großmann, der anschließend durch die Abteile ging, bereitete uns auf die Ankunft in Naumburg vor und überging den Vorfall auf dem Weißenfelser Bahnhof mit Schweigen. Wir wagten auch nicht zu fragen.

Das markante Bauwerk mit seinen vier Ecktürmen am Rande der Stadt schien den Naumburger Dom im Zentrum noch zu überragen: Die ehemalige preußische Kadettenanstalt erwartetete uns, von 1897 bis 1900 als bis dahin modernste Einrichtung des Königlich Preußischen Kadettenkorps erbaut, das 1717 durch den Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. begründet worden war. Nach Potsdam, Oranienstein, Bensberg und Köslin wurde Naumburg somit zu einer der privilegierten Stätten in der Preußischen Provinz, wo eine solche militärische Eliteanstalt entstand, die nach 1918 zu einer Stabila, einer Staatlichen Bildungsanstalt, und 1934 zu einer Napola, einer National-politischen Erziehungsanstalt, wurde.

1945 sollte Naumburg nun zur letzten Station unserer nationalpolitischen Odyssee werden und damit einer Irrfahrt im doppelten Sinne des Wortes eine Ende, ein für uns bitteres Ende setzen.

Noch dachten wir an einen neuen Anfang, als wir nach einem kurzen Marsch vom Naumburger Bahnhof in die Anstalt einrückten und auf dem Appellplatz empfangen wurden. Auf dem weiträumigen Hof der hufeisenförmig angelegten Anstalt waren mehrere Hunderschaften von 10- bis 14jährigen angetreten, die uns mit einem dreifachen "Hurra" begrüßten.

"Jungmannen der NPEA Wartheland", rief uns der Naumburger Anstaltsleiter zu, "ihr kommt von einem unserer östlichen Vorposten, die jetzt von euren älteren Kameraden gegen den bolschewistischen Ansturm heldenhaft verteidigt werden. Seid stolz auf die Napola-Kämpfer und eifert ihnen nach, sobald der Ruf des Führer auch an euch ergehen mag. Vorübergehend", so führte er weiter aus, "werdet ihr hier in Naumburg eine neue Heimstatt finden und euren Dienst weiterhin diszipliniert und verantwortungsbewusst versehen."

Nachdem wir unsere neuen Quartiere, auf engstem Raum überbelegte Stuben, bezogen hatten, kam es zu ersten Kontakten mit unseren neuen Kameraden, die – wie sich herausstellte – aus verschiedenen Teilen des Reiches zusammengewürfelt waren. Nicht nur aus Deutschland, sondern auch Jungmannen der Reichsschule Valkenburg bei Leiden in den Niederlanden zählten zu den Zöglingen dieses NPEA-Refugiums. Und jede Woche kamen neue junge "Gäste" hinzu, so dass die Anstalt bald aus den Angeln zu geraten drohte.

Wir nahmen zunächst einmal – so gut es ging – unseren regulären Dienstbetrieb wieder auf, wenn er auch unter diesen Umständen nicht als normal bezeichnet werden konnte. Auch gab es nach Wochen wieder den ersten Schulunterricht. Wir hatten ja einiges nachzuholen.

Draußen hatte es inzwischen geschneit, und neben den Winterfreuden, die wir bei Sport und Spiel genießen konnten, wurde uns auch reichlich Gelegenheit geboten, uns in Arbeitseinsätzen beim Schneeschippen auszutoben.

In der Freizeit nutzten wir jede sich bietende Gelegenheit, die weiträumige frühere Kadettenanstalt zu erkunden. Da gab es einen Traditionsraum mit Fahnen, Uniformen und anderen Museumsstücken, die ebenso wie altes Waffengerät zu bestaunen waren.

Kalle und mich zog es aber nach oben, auf einen der vier Türme des Bauwerks, von wo aus man einen prächtigen Ausblick haben musste. Eine Tür auf dem Boden fanden wir unverschlossen. Von da aus ging eine steile Leiter nach oben, halsbrecherisch anmutend, mindestens 20 Meter hoch, mit zwei Absätzen, also nichts für Leute, die nicht schwindelfrei sind. Aber wir schafften sie spielend.

"Mensch, Hannes, das hat sich gelohnt. Sieh mal, der Naumburger Dom und die Altstadt, dort die Saale und da hinten die Unstrut." Kalle war begeistert. Wir lehnten uns über die Brüstung und blickten über die verschneite Landschaft, die so still und friedlich vor uns lag.

Deutschland, ein Wintermärchen, kam mir in den Sinn, sprach es aber nicht aus, mich schwach daran erinnernd, dass dies ein jüdischer Buchtitel sein musste, wie uns in einer Deutschstunde über undeutsche Literatur vermittelt worden war.

Kalle war indessen schon dabei, sich "zu verewigen", indem er mit seinem Taschenmesser seine Initialen mit Datum in das Dachblech ritzte. "Guter Gedanke, vielleicht kommen wir später wieder einmal hierher", sagte ich und tat es ihm gleich.

Nachdem wir eine Weile geschwiegen und unseren Gedanken nachgehangen hatten, sagte ich leise: "Kalle, denkst du manchmal daran, was deine Eltern jetzt wohl machen werden. Sicherlich wird deine Mutter schon evakuiert sein, ebenso wie meine Leute. Aber dein Vater?"

"Wenn es ernst wird, wird er Festungskommandant von Glogau oder so etwas ähnliches. Darauf kannst du dich verlassen", versetzte Kalle, der seine Besorgnis wohl hinter einer Portion Kaltschnäuzigkeit verbergen wollte. "Vielleicht bleiben die Glogauer, die evakuiert werden, zusammen, und wir treffen sie irgendwo gemeinsam wieder. Oder sie sind längst wieder zurück in der Heimat."

Das konnte nur frommes Wunschdenken sein, fernab der bitteren Realität. Die Garnisonsstadt Glogau wurde am 13. Februar, noch zwei Tage vor Breslau, eingeschlossen und auf Führerbefehl zur Festung erklärt. Am 8. Februar hatten die Russen eine Offensive nördlich von Breslau eingeleitet und zwei Tage darauf Liegnitz eingenommen. Die Festung Glogau, von feindlicher Artillerie in einen Trümmerhaufen verwandelt, sollte sich noch bis zum l. April halten, ehe seine Besatzung unter Oberst Graf zu Eulenburg von den Sowjets überwältigt wurde.

Zur Verteidigung Glogaus waren die letzten Reserven mobilisiert worden. Zu ihnen gehörte, wie ich später erfuhr, auch der Volkssturmmann Richard Walter, mein Onkel, der wie durch ein Wunder das Inferno überlebte und in Gefangenschaft geriet, während seine Frau, meine Tante Anna, zusammen mit Tante Erika und ihren erst im September 1943 geborenen Zwillingen bereits im Januar evakuiert worden war.

Länger in Glogau musste auch unser Cousin Jorgel bleiben, inzwischen zu einem mannhaften Georg herangewachsen. Zusammen mit Burschen des Jahrgangs 1929/30 wurde er in einem HJ-Heim in Stadionnähe einquartiert und zeitweilig als Melder für den Glogauer Standortältesten eingesetzt, bis es ihn in ein sogenanntes Wehrertüchtigungslager im Riesengebirge verschlug, ohne dass er jedoch in die Kämpfe um den "Endsieg" hätte eingreifen müssen.

Ende Februar schien auch für uns in Naumburg die Lage kritisch zu werden. Die Napola war hoffnungslos überfüllt, obwohl in dieser Anstalt ohnehin nur Jungmannen der Unterstufe untergebracht waren. Weitere Ausweichstationen schien es nicht mehr zu geben. Also begann man diejenigen, die noch ein Zuhause hatten, nach Hause zu schicken, natürlich nur "vorübergehend", wie es im Sprachgebrauch ungebrochener Siegeszuversicht hieß.

"Leute, wir machen nur ‘ne Pause und geh’n noch mal nach Hause", reimte Hansi Lohmann in einem Anflug von Galgenhumor, insgeheim aber immer noch hoffend, seine Eltern bei seiner Tante in Leipzig zu treffen. "Schließlich haben wir ja unsere Weihnachts- und Winterferien noch nachzuholen, stimmt’s?"

Zunächst waren aber unsere jüngsten Kameraden, die Jungmannen der l. und 2. Züge, an der Reihe. Es wurden Listen angelegt, wie später auch für uns, wer, wann und wohin entlassen werden konnte. Da nur möglichst wenige in der Anstalt verbleiben sollten, war man nicht kleinlich, Adressen auch von entfernten Verwandten oder gar von Bekannten der Familien zu akzeptieren, wenn sie nur im mitteldeutschen Raum gelegen waren. Noch verkehrten Personenzüge der Reichsbahn, mehr oder weniger regelmäßig und pünktlich, getreu der Losung: "Räder müssen rollen für den Sieg!"

Anfang März wurden dann die meisten Zöglinge unseres Jahrganges verabschiedet. Und das geschah durchaus nicht sang- und klanglos, sondern mit einem zackigen Appell, bei dem der Anstaltsleiter noch einmal alle Register rückhaltlosen Bekenntnisses zu Führer, Volk und Vaterland zog. "Wir, eure Erzieher, sind uns gewiss", rief er aus, "euch in diesem Geist gestählt zu haben, so dass ihr - obwohl ihr vorübergehend die Gemeinschaft verlasst - alle Zeit und an jedem Ort treu zu unserer Fahne stehen werdet." Aus voller Kehle riefen wir dreimal "Sieg heil" und sangen noch einmal das Hitlerjugend-Lied, das da am Ende mahnt: "...denn die Fahne ist mehr als der Tod."

Zugführer Großmann, der anschließend die Fahrkarten verteilte, nahm sich noch Zeit, dem einen oder anderen aufmunternde Worte mit auf den Weg zu geben. "Nun, Hannes, Borna bei Leipzig, das ist ja nur ein Katzensprung und sicher kein Problem für dich." Er gab sich zuversichtlich, wurde aber nachdenklich, als ich ihm erzählte, dass ich noch keine Nachricht von meiner Mutter erhalten habe. "Du hast doch aber schon nach Borna geschrieben. Die Post geht heutzutage leider etwas länger. Vielleicht wartet aber in Borna eine gute Nachricht auf dich. Ich wünsche es dir. Auf alle Fälle bist du dort erst einmal gut aufgehoben."

Traurig für mich war, mich von meinem Freund Kalle zu trennen und nicht zu wissen, wo und wann ich ihn je wiedersehen werde. Er war bei unserem letzten Aufenthalt in Glogau zwar auch kurz zu Hause gewesen und hatte von seinem Vater eine Anlaufadresse in Potsdam erhalten, durfte aber im Augenblick nicht dorthin reisen. "Eben abwarten und Tee trinken", meinte er lakonisch, obwohl ihm doch ein wenig mulmig war, mich auf und davon ziehen zu sehen und selbst nicht zu wissen, was mit ihm passieren werde.

"Mach’s gut, Hannes", sagte er tapfer. "Halte die Ohren steif und die Fahne hoch! Wir sehen uns irgendwann und irgendwo in alter Frische wieder."

Zu den Kameraden, die den "Sonderurlaub" mangels Kontaktadressen nicht antreten konnten, gehörte auch Jgm.-Zugführer Hartmut Reuter, mit dem mich ein freundschaftliches Verhältnis verband. "Ich vermute", bekannte er mir, "in Parchim stehen schon die Russen."

"Glaube ich nicht, Hartmut", versuchte ich ihn aufzurichten. "Du hast doch gleich aus Potsdam an deine Familie geschrieben. Meine Post nach Glogau kann ich abschreiben, aber Parchim liegt doch weit im Hinterland. Die Briefe dauern eben länger, bei den gestörten Zugverbindungen. Pass auf, schon in den nächsten Tagen kriegst du Nachricht und kannst auch abdampfen."

"Wenn alles vorbei ist, Hannes, besuch mich doch mal", bat Hartmut. "Ich meine, nach dem Endsieg, falls wir ihn nicht doch noch gemeinsam erleben sollten."

Das sollten wir wohl nicht, obwohl wir auch zu diesem Zeitpunkt unseren Glauben an den Sieg der gerechten deutschen Sache noch nicht verloren hatten. Wir klammerten uns an den ehernen Napola-Grundsatz: Glauben, gehorchen, kämpfen! Noch war Deutschland nicht verloren!

Auf dem Leipziger Hauptbahnhof, der durch Bombenangriffe bereits arg in Mitleidenschaft gezogen war und viel von seinem Glanz als einer der größten und modernsten Eisenbahnstationen Europas eingebüßt hatte, verloren wir "Pimpfe" in unseren Napola-Uniformen uns fast in dem dichten Gewühl von Reisenden, darunter viele Flüchtlinge aus den östlichen Reichsgebieten. Doch wir hielten zusammen, wie eh und je, bevor es Abschiednehmen hieß und wir, nunmehr auf uns selbst gestellt, unsere eigenen Wege gehen mussten.

"Mach’s man gut, Kleiner! Wir sehen uns bald wieder", sagte ich zu Hansi Lohmann, der nur noch die Straßenbahn zu benutzen brauchte, um zu seinem Ziel zu gelangen. "Mach’s besser, Hannes, und viel Glück!" Und schon war der Kleine in der Menge untergetaucht, während ich nach dem Anschlusszug suchte. Ja, ja, Glück brauchte ich, um über den Umweg nach Borna meine Familie zu finden.

In der Stadt der Braunkohle, etwa 30 Kilometer südlich von Leipzig, angelangt, hatte ich erhebliche Mühe, mich zurechtzufinden. Ich musste mehrmals nach dem Weg fragen, bevor ich endlich mein Ziel erreichte und vor einem Reihenhaus am Stadtrand stand, das Namensschild sah und klingelte.

"Mein Gott, Junge, wo kommst du denn her? Du kannst doch nur der Johannes sein", empfing mich eine freundliche Frau, drückte mich an sich und sagte, dass sie mich schon seit einiger Zeit voller Ungeduld erwartet habe. "Zuerst das Allerwichtigste: Deine Mutter, dein Bruder und deine Oma sind wohlauf und freuen sich, dich bald bei sich zu haben."

Ich konnte es kaum erwarten, Einzelheiten zu erfahren, wurde aber erst einmal in die Wohnküche bugsiert, musste etwas essen und trinken und hatte dann meine Schwierigkeiten, den sprudelnden Erzählungen in einem mir ungewohnten Dialekt zu folgen. Meine Leute waren also im Erzgebirge und in Sicherheit. Ein Brief meiner Mutter aus Grünhainichen im Kreis Flöha bei Chemnitz war schon vor einem Monat in Borna eingetroffen. Sie habe auch nach Neuzelle geschrieben, aber keine Antwort erhalten.

Frau Wosnitza, so hieß meine sächsische Gastgeberin, bedauerte auch, von mir bisher keine Nachricht erhalten zu haben, obwohl ich ihr doch eine Karte aus Naumburg geschrieben hatte. Ja, ja, die Reichspost mit ihren kriegsbedingten Schwierigkeiten im Bahntransport der Sendungen. Und wie viel Briefe, Karten und Pakete mögen bei Luftangriffen auf Leipzig einfach verbrannt sein?

"Hauptsache, du bist wohlbehalten in Borna gelandet", sagte sie in ihrem breiten Sächsisch, das nicht nur herzlich und gemütlich klang, sondern auch so gemeint war. "Du kannst über Nacht bei mir bleiben, dich noch mal richtig rausfuttern und morgen früh mit dem ersten Zug nach Chemnitz fahren. Dort steigst du nach Flöha um, von wo aus es nicht mehr weit bis Grünhainichen ist."

Gesagt, getan! Mit den besten Wünschen für eine gute Reise und vielen lieben Grüßen nach Grünhainchen ging es dann, nachdem ich mich herzlich bedankt hatte, auf die letzte Etappe meiner Irrfahrt zurück in den Schoß der Familie, noch nicht ahnend, dass uns später bei dem Versuch, in die Heimat zurückzukehren, eine noch abenteuerlichere Odyssee bevorstehen sollte.

Die Eisenbahnfahrt verlief reibungslos, und so stapfte ich am frühen Nachmittag eine verschneite, nicht enden wollende Straße vom Bahnhof Grünhainichen hinauf in den erzgebirgischen Ort, der noch im Winterschlaf zu liegen schien.

Nur vereinzelt kamen mir Leute entgegen, die verwundert auf den wacker dahinmarschierenden kleinen Mann in der merkwürdigen Uniform schauten. Jetzt ziehen sie schon die Pimpfe ein, mögen manche gedacht und als meinen Bestimmungsort eine Nachrichteneinheit der Wehrmacht gewähnt haben, die sich am oberen Ortsausgang eingenistet hatte.

Auf Anhieb fand ich das zweistöckige Haus mit der Post in der Ortsmitte, in der eine Familie Kurze wohnte, die Flüchtlinge aus Schlesien aufgenommen haben sollte. Und da waren sie schon: Mit einem Freudenschrei umarmte mich meine Mutter, tränenüberströmt und überglücklich.