in Erinnerung, wie die “Christbäume” am Himmel standen, die das Bombenabwurfziel der Leunawerke markierten oder wir tagelang in den Obstregalen des Kellers im Haus Grochlitzer Straße 54 schliefen, um das Kriegsende zu erleben. Ich sah staunend, wie die Glocken aus dem Turm des Domes als Rohstoff für Kriegszwecke herausgeholt wurden.
Es war die Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch, als wir uns aus dem Heeres-Verpflegungsamt mit Lebensmitteln eindeckten, während im brennenden Gebäude die Konservendosen “explodierten”, uns aus der Schokoladenfabrik Bolle in er heutigen “Rosa-Luxemburg-Straße” über fetthaltige Rutschen aus eingeschlagenen Fenstern mit Butter versorgten oder aus dem Heereszeugamt u.a. mit Kugellagern eindeckten, um uns fahrbare Untersätze zu bauen. Es war die Zeit, als die Russen von bewachten Kohlenzügen am Ostbahnhof abgelenkt werden mussten, damit andere und ich die begehrten Briketts von den Güterwagen werfen konnten, um zu Hause notwendigen Brennstoff zum Kochen zu haben oder die Stube heizen zu können.
Nahrungsmittel waren in der Zeit nach dem Krieg knapp. Wir lasen die verbliebenen Ähren auf und suchten mit Hacke und Spaten nach den letzten Kartoffeln in den abgeernteten Feldern. Wir sammelten auf den Straßen heruntergefallene Zuckerrüben auf, schrubbten sie in der Badewanne und kochten Rübensaft. Wir blähten unseren Bauch - für nur kurze Zeit andauernd -mit “Schlagsahne” aus Molke auf und fuhren in überfüllten Zügen aufs Land, um bei den Bauern unser mehr oder minder wertvolles Hab und Gut in Lebensmittel umzusetzen.
Ich sah meine Mutter weinend aus dem Esszimmer gehen, als für jeden der vier Kinder nur noch eine Kelle Spinat zum Mittagessen auf den Teller kam und keiner mehr satt wurde. Als mein Bruder dann die Abwesenheit der Eltern nutzte, sich in den Sessel zu setzen und die verbliebenen Reste von seinem Teller abzulecken, nahm ich mein Sitzkissen und warf es nach ihm. Die Folge: Der Teller brach mitten entzwei und schlitzte seine Nase quer auf. Er bewahrte mich aber vor einer weiteren Tracht Prügel und freut sich noch heute über seinen “Schmiss”.
Offenbar muss ich wohl in dieser Zeit den meisten Hunger gehabt haben.
Die unmittelbare Nachkriegszeit brachte es mit sich, dass wir sämtliche Schulen von Naumburg kennen lernten und die Klassen zeitweise nur durch mitgebrachte Kohlen geheizt werden konnten.
Es gab Schulspeisung in Form eines Brötchens. Da half mir, dass mein Vater Chef der Kinos war. Die kulturhungrigen Menschen stürmten die meist überfüllten Vorstellungen, die teilweise noch mit Bühnenschauen meines Vaters wie folgt angereichert waren und bei denen ich als “jugendlicher Statist” mitwirken konnte: Eintrittskarten dazu waren stets begehrt.
Ich “besorgte” mir also sorgsam gehütete Freikarten, tauschte sie in der Schule bei vielen Mitschülern gegen Brötchen ein, wurde daher in dieser Zeit meist auch satt und konnte meine Familie noch damit “beglücken”. Reichten die Freikarten nicht aus, legte ich den Hebel des Notausganges der “Reichskrone” so um, dass die Tür von außen mit einem Tritt gegen die Tür geöffnet werden konnte. Gegen einen Obolus schleuste ich meine Mitschüler auf den Hausboden des Theaters, wo man unbemerkt (meistens) auch manch “jugendverbotene Filme” sehen konnte. Gelitten haben wir dadurch nicht. Ich kam gut durch.
In der Erinnerung blieben meist nicht die Dinge, die man geleistet hat, sondern die Dinge, die man sich so geleistet hat. In der Gärtnerei Fischer in der Grochlitzer Straße lieferten wir uns Tomatenschlachten. Wem die “Munition” ausgegangen war und wer gewonnen hat, oder ob die “Rotfärbung” hier ihren Ursprung hatte, weiß ich nicht mehr.
Ich landete im Krankenbett, als ich im Bürgergarten mit Skischuhen die Durchfahrt zwischen zwei Bäumen verfehlte und einer dieser Bäume trotzdem meinem Aufprall standhielt. Am “Halleschen Anger” flog ich in hohem Bogen von einem durchgehenden Sattel- und zügellosen Pferd und landete ebenfalls im Krankenbett. Ich spieß mir die Nase am Eisenzaun des Nachbarn auf und brachte eine Platzpatrone zur Explosion, die zielgenau und mit “durchschlagendem Erfolg” an meinem Knie landete.
Man “klaute” mir das von meinem Vater unerlaubt entliehene Fahrrad in der Salzstraße, als ich mir ein paar Groschen durch den Verkauf von leeren Flaschen verdienen wollte. Meine Lederhose verstärkte danach die Kraft des sich sinkenden Rohrstocks auf meinem Hinterteil.
In Erinnerung bleibt mir auch die Mitwirkung in einem Orchesterfreilichtkonzert des Gymnasiums in der NAPOLA, obwohl mir das Balancieren von frisch lackierten Kugeln für Bücherstützen mit dem Geigenbogen oder das Durchbohren der Gardinen manchmal mehr Spaß machte als das tägliche Üben auf der Geige.
1949 war der Spaß vorbei - der “Ernst des Lebens” begann: Mein Vater brachte mich frühmorgens vollbepackt, aber mit der Geige unter dem Arm zum Bahnhof mit einer Fahrkarte nach Ilsenburg. Von da aus ging es zu Fuß Richtung Eckertal, wo mich verabredungsgemäß ein Naumburger Grenzpolizist über den Grenzfluß der Ecker in den Westen schleuste. Seine Heimatstadt vergisst man nicht. Noch heute treibt es mich hin und wieder an die Stellen meiner Kindheitserlebnisse zurück. Das wird wohl auch so bleiben.
Günter Bornschein (siehe unten stehenden Kommentar) stellte uns folgende Abbildungen zum "Freilichtkonzert" zur Verfügung: